Schwer sein

„Das soll keine Drohung sein“, sagt meine Therapeutin noch. Es liegt eine Schwere im Raum, die mir die Luft zum Atmen nimmt. Einige Sekunden vorher hat sie mir mitgeteilt, dass sich mein Gewicht mittlerweile in einem kritischen Bereich bewegt – dass wir, wenn es noch weniger wird, an einer stationären Aufnahme nicht vorbeikommen. Ich beginne zu weinen, während sie weiter spricht, mir sagt, wie wichtig es ist, dass ich da bleibe – dass ich nicht verschwinde und wie sehr sie sich für mich wünscht, dass es mir besser geht (und dass sie mir nur helfen kann, wenn noch etwas von mir übrig ist). Ich drifte ab, ersticke fast an dem Gefühl und der Schuld, überhaupt da zu sein und für diese Situation zu sorgen, dass ich nicht stark genug bin, um gegen das Weniger werden ankommen zu können, dass wir darüber sprechen, dass ich vielleicht ambulant nicht tragbar bin. Ich bin zu schwer, denke ich, und es ist paradox, dass es sich anfühlt, als würde ich mit jedem Gramm, das ich weniger werde, noch belastender werden.

„Sind Sie noch da, Frau B.?“ Obwohl ich die Worte höre, kann ich nicht reagieren – und es dauert einige Minuten, bis ich mit Hilfe meiner Therapeutin in die Gegenwart zurückkehre. Irgendwie gelingt es mir zu sagen, dass es mir leid tut, dass ich so eine Belastung bin und es so schwer mit mir ist – dass ich nicht so bin, wie ich sein müsste. Dass wir jetzt an einem ganz anderen Punkt sein müssten – ich anders mit der Not umgehen können sollte, die so einnehmend ist, dass ich das Gefühl habe, noch immer dieses Mädchen zu sein, das diese schrecklichen Dinge erlebt hat.

Erst eine Woche zuvor haben wir festgestellt, dass ich das Gefühl habe, in der Gegenwart in größerer Not als damals zu sein – und ich kann gar nicht in Worte fassen, wie groß noch immer die Scham ist, weil da sofort diese Überzeugung laut wird, dass das nicht so sein darf. Ich kann nicht greifen, warum dieses Gefühl im Moment so einnehmend ist – dieses tiefe Gefühle, mit meinem Erleben falsch zu sein, das sich so sehr wie damals anfühlt. Ich wünschte, ich könnte es festmachen, einen Auslöser finden – um etwas in der Hand zu haben und mich nicht ganz so schwach und ausgeliefert zu fühlen. Es sind Sätze wie „Es ist jetzt vorbei“ oder „Das Schlimmste ist schon geschehen“, die es so schwer machen, Worte dafür zu finden, wie es sich im Heute anfühlt. Früher habe ich nicht viel gefühlt. Ich habe Dinge ausgehalten, abgespalten und den Schmerz betäubt, weil es wichtig war, um zu überleben. Ich habe oft gelesen oder gehört, dass Menschen in Gefahrensituationen nicht spüren, wie ernsthaft verletzt sie sind – etwa nach einem Autounfall. Dass sie, obwohl ihr Bein gebrochen ist, trotzdem fortbewegen konnten, weil es überlebenswichtig war – um dann in dem Moment, in dem sie in Sicherheit sind, all den Schmerz zu spüren, der da ist, und vielleicht sogar kollabieren. So fühlt es sich an – als würde jetzt all der Schmerz, die Not, die Trauer über mich hineinbrechen, nachdem ich all meine Kraft dabei aufgebraucht habe, diese Situationen zu überleben und mich daraus zu retten. Ich bin so in Not und so in Schmerz, dass ich gar keine Worte dafür finde – obwohl jetzt alles gut ist. Obwohl ich noch so jung bin und mein Leben noch vor mir liegt.

Sie dürfen mich belasten. Sie dürfen sich mir zumuten.“ Wieder laufen Tränen über meine Wangen, weil mich die Worte meiner Therapeutin so berühren – und ich es gleichzeitig nicht verstehen kann, wie sie diese so ernst meinen kann. (Und obwohl ich diese Erfahrung bereits bei meiner ehemaligen Therapeutin in der Heimatstadt machen durfte, dieses „ich bin da, um das mit dir auszuhalten, ganz egal, wie sehr du versuchst, zu verschwinden“, fühlt es sich ungewohnt und überwältigend beängstigend an, weil ich doch nicht ankommen darf, ich darf mich nie zu sicher bei jemanden fühlen, weil ich nicht weiß, wie lange er bleibt und wann ich doch verletzt werde.)

In der letzten Klinik, in der ich so schlechte Erfahrungen gemacht habe, meinte meine behandelnde Psychologin einmal, dass sie das Gefühl hat, dass ich austeste, wie viel sie aushält – als müsste sie sich ständig beweisen; und damals habe ich mich dafür geschämt und gleichzeitig an meine ehemalige Therapeutin gedacht, die so viele dunkle Momente mit mir ausgehalten hat. Die ausgehalten hat, wenn ich sterben wollte. Meine Hände und Arme und Beine zerschnitt, weil ich anders mit dem Schmerz nicht umgehen konnte. Die es sich nicht leicht gemacht hat, in dem sie mich wegschicken wollte. Meine jetzige Therapeutin ist auch jemand, der mir immer wieder beweist, dass ich ausgehalten werde – und ich kann gar nicht richtig in Worte fassen, warum ich dieses Gefühl habe, bei ihr ankommen und in Sicherheit sein zu können. Vielleicht, weil sie einige Grenzen überschreitet – nicht im Sinne von Übergriffigkeit, sondern dass sie mehr tut, als sie eigentlich müsste. Dass ich ihr jederzeit Mails schreiben darf. Dass wir zusätzlich zu unserem Einzeltermin telefonieren. Sie ist da. Ein Stück weit hat sie sich damals sogar für mich entschieden, denn ich lernte sie kennen, als ich in der Intensivbetreuung der PIA war, eigentlich etwas, was nur auf Zeit ist – ganz ähnlich war es damals bei meiner Kinder- und Jugendtherapeutin gewesen, die mir von sich aus angeboten hat, mich mitzunehmen, als sie sich selbstständig machte, die mir so sagte: du bist mir nicht zu schwer.

Es sind diese Nuancen, die einen Unterschied machen – und doch fühlt es sich immer wieder bedrohlich an, dass da plötzlich jemand ist (und es fühlt sich falsch an, „plötzlich“ zu schreiben – auch wenn es sich genauso anfühlt, wie eine Überraschung, obwohl sie nicht der erste Mensch ist, bei dem ich eine andere Erfahrung machen durfte; und doch ist es immer wieder dieses Gefühl des Nicht-Fassen-Könnens). Ich schämte mich in Grund und Boden, als ich ihr sagte, dass ich ihr in einem Nebensatz sagte, dass ich mich bei ihr sicher fühle, genauso, wie es mich irritierte, als sie mir zurückmeldete, dass sie sich gefreut hat, als ich mich das erste Mal traute, nach einem zusätzlichen Telefonkontakt zu fragen. Auch gestern war es mir unangenehm, als wir darüber sprachen, warum es mir hilft, Mails statt Tagebuch zu schreiben – dass es um den Kontakt geht, dass ich nicht allein bin, dass sie da ist – und ihre Antwort darauf war, dass ich auch jeden Tag schreiben dürfe, solange es mir hilft, solange ich bleibe.

„Hilft es Ihnen, wenn ich Ihnen eine Sprachnachricht schicke?“, fragt sie zum Ende der Stunde, nachdem wir zusammen festgelegt haben, dass ich pro Woche vierhundert Gramm zunehmen muss. Sie setzt schwungvoll ihre Unterschrift unter den Gewichtsvertrag – und ich versuche nicht zu weinen, weil es mir so unfassbar viel Angst macht. Weil ich doch so viel in mir nicht mehr da sein möchte. Und es ist krass, wie einnehmend und stark diese Stimme ist – und ich kann auch jetzt, während des Schreibens, nicht fassen, wie ich wieder an diesen Punkt kommen konnte, an dem die Essstörung so einnehmend ist, dass ich das Gefühl habe, keine Chance gegen sie zu haben. Es ist dieses tiefe Gefühl, nicht da sein zu dürfen – ein Tod auf Raten; und ich habe mich lange nicht mehr so müde gefühlt, wie ich mich im Moment fühle. Als würde ich jetzt und heute all die Anstrengung merken, die es gekostet hat, mich aus der Heimatstadt zu retten und diese Dinge zu überleben – als könnte ich die Last plötzlich nicht mehr tragen (und vielleicht muss ich das auch nicht mehr, aber auch das macht Angst; mich genau jetzt in diesem Moment zuzumuten und nicht zu verschwinden). Und da ist diese tiefe Skepsis, wie es sein kann, dass jemand möchte, dass ich mehr werde – dass ich da bin, selbst, wenn es im Moment bedeutet, ganz viel Schwere auszuhalten. (Und warum diese Menschen jetzt da sind, obwohl ich sie so viel früher gebraucht hätte.)

2 Kommentare zu „Schwer sein

  1. Ich kenn dieses Gefühl, dass es sich jetzt viel furchtbarer anfühlt als damals – du bist nicht allein, Elisa! Und es gibt Menschen, die aushalten, was auch immer du zu erzählen hast, versprochen!

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