Jahrestag

Es ist das dritte Mal, dass ich den Geburtstag meines Vaters in der neuen Stadt verbringe.

Ein Jahrestag. Ein Datum, das mir so schmerzlich in Erinnerung geblieben ist – im Gegensatz zu vielen anderen Übergriffen, die sich mehr und mehr mit dem Alltag vermischten. Es sagt viel, dass ich es nur in einer Mail an meine Therapeutin erwähne, die ausgerechnet jetzt eine Woche im Urlaub ist, und jetzt hier – aber nicht mit den Menschen teile, die vielleicht da sein könnten. Als wäre da immer noch diese Mauer, dieses Gefühl, nicht teilen zu dürfen, dass es Tage gibt, die noch schwerer sind. Vielleicht, weil ich glaube, es nicht aushalten zu können, wenn Menschen da sind, wenn die Schwere tatsächlich da sein darf, dieser unfassbare Schmerz, vor dem ich immer noch zu fliehen versuche. Auch wenn ich weiß, dass der nächste Samstag schwer wird, halte ich mich an der Lüge fest, dass es ein Tag wie alle anderen ist und ich mich nicht so anstellen sollte. Es ist nicht der Rede wert.

Es ist ein bitteres Gefühl, wenn ich daran denke, wie mein Vater diesen Tag verbringen wird. Er wird gefeiert werden. Meine Brüder werden dort sein. Die ganze Familie. Als wäre alles gut. Manchmal kann ich nicht verstehen, wie das sein kann – wie kann es sein, dass dort alles gut ist, während ich hier versuche, irgendwie zu überleben? Während ich an kaum etwas anderes denken kann – als an seine erdrückende Nähe, seine Präsenz, die mir selbst jetzt den Atem raubt, so unendlich viele Jahre später. Ich frage mich, ob ihm das bewusst ist. Ob er auch daran denkt. Oder ob es ihm egal ist. ich weiß nicht, was leichter zu ertragen wäre – dass er keine Ahnung hatte und unwillkürlich gehandelt hat, weil er es nicht besser wusste, oder ob er in jeder Sekunde wusste, was er dort tat. War ich etwas Besonderes – oder das Mittel zum Zweck, die einzige Tochter, die eben da war, als er sie gebraucht hat? Hat er mich so sehr geliebt – oder habe ich ihm nichts bedeutet? War er krank? Ist er es noch heute? Endete der Missbrauch mit mir – oder macht er dort weiter, wo er angefangen hat? Ist es vermessen, zu glauben, ich sei der Grund gewesen – dass es etwas an mir gewesen ist, das ihn die Grenze überschreiten ließ – nur damit ich mich daran festhalten kann, dass andere Mädchen sicher vor ihm sind? Dass es okay war, mich in Sicherheit zu bringen, ohne etwas zu sagen? Es ist meine Schuld, dass alle glauben, alles wäre gut. Weil ich ihn bis heute schütze. Weil ich gegangen bin.

„Für viele ist eine Anzeige ein sehr wichtiger Wendepunkt“, sagt meine Psychiaterin und fügt ein „Aber davon sind Sie noch ganz weit entfernt“ hinzu. Ich kann mir doch nicht einmal selbst glauben, dass es ein Verbrechen war. Dass es nicht in meiner Verantwortung lag. Es ist doch mein Fehler, dass ich damit nicht gut umgehen kann. Dass ich nicht stark genug bin, um mich zusammenzureißen und weiterzumachen. Stattdessen hungere ich. Werde unmerklich immer ein bisschen weniger. Verletze mich. Bleibe unerreichbar. Ich bleibe am Leben, weil ich mich Menschen verpflichtet fühle – und gleichzeitig zweifle ich daran, wie es so wichtig sein kann, dass ich am Leben bleibe. Warum es so wichtig ist, dass ich Teil dieser Welt bin – wenn doch nur noch ganz wenig von mir übrig geblieben ist. Ich fühle mich wie ein Wrack. Zerbrochen. Nicht stark genug, um aus dem Missbrauch etwas Gutes zu machen – um daraus zu wachsen.

Ich wollte nie diese Stärke haben. „Du musst jetzt ein großes Mädchen sein“, hallt mir die Stimme meines Vaters durch den Kopf. Von einer auf die anderen Sekunde war ich kein Kind mehr. Ich kann es nicht ertragen, wenn jemand sagt, wie tapfer ich bin. Wie erwachsen. Weil erwachsen und tapfer sein damals etwas ganz Schreckliches bedeutete. Weil es bedeutete, Dinge auszuhalten, die kein Kind hätte aushalten dürfen. Es ist seltsam, dass ich es jetzt so schreiben kann – und im selben Moment so felsenfest davon überzeugt bin, genau das verdient zu haben. Das, was kein Kind hätte aushalten dürfen – das stand mir zu. Das war und ist für mich bestimmt. Ich habe es nicht verdient, dass Menschen da sind. Sicherheit. Vertrauen. Anteilnahme. Ich spüre so sehr, dass ich all diese Dinge nicht wollte – ich wollte all das nicht – und doch fühle ich mich schuldig. Schuldig, weil ich nicht anders gehandelt habe, obwohl ich es nicht wollte. Obwohl irgendetwas in mir wusste, dass das nicht richtig war. Dass ich irgendwann verschwunden bin, statt mich zu wehren. Mich ergeben habe. So war, wie mein Vater mich brauchte. Ich halte mich selbst kaum aus.

(Wie soll ich da irgendwann eine Anzeige erstatten – meinem Vater ins Gesicht sehen, der sagen wird, dass er mich doch nie geschlagen hat. Er war doch immer für mich da.)

Ich bin wahnsinnig müde.

Ein Kommentar zu “Jahrestag

  1. Ein Vater ist dazu da, die Familie zu beschützen. Etwas, woran jeder hin und wieder erinnert werden sollte. Ich selbst brauche es auch hin und wieder, wenn ich mal zu harsch mit meinen beiden spreche. Sie sind zarte, kleine Kinder. Können sich nicht gegen einen Erwachsenen Mann wehren, ob verbal oder körperlich. Nicht auf die Art, wie es ein Erwachsener könnte. Wichtig ist: Andere haben versagt. Nicht du. Du hattest das nicht verdient, genau wie Jedes andere Kind Gewalt verdient hat. Du verdienst wie jeder andere Mensch auch Sicherheit und Achtung. Viele gute Tage dir.

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