Aushalten (müssen)

Liebe [Psychiaterin],  

es fühlt sich schwer an mit dem Schreiben anzufangen, weil da ganz viel Scham ist. Dieses Gefühl, zu versagen und eine Enttäuschung zu sein, ist im Moment so einnehmend, dass ich fast schon Angst davor habe, wenn wir uns am Montag sehen und Sie mich ertragen müssen. Es ist paradox, wie sehr ich mich, trotz so wenig Gewicht, zu viel fühlen kann – und egal, wie klein die Zahl noch wird, es wird nicht leichter, mich auszuhalten. Das Gefühl, zu viel Platz einzunehmen, immer noch viel zu sehr da zu sein, verschwindet nicht. Am liebsten möchte ich mich in Luft auflösen.  

Je näher das Jahresende rückt, umso schlechter fühle ich mich, weil ich nicht mehr geschafft habe, als ein weiteres Jahr zu überleben. Es ist hart, zu begreifen, dass ich nach all der Therapie, all der Zeit gerade erst am Anfang bin, was die Verarbeitung des Missbrauchs angeht. Dass es all die Klinikaufenthalte, den Kontaktabbruch, das Hin und Her mit [der Therapeutin] und dem Gewicht gebraucht hat, um jetzt an diesem Punkt zu sein. Um überhaupt zu merken, wie viel Schmerz da ist und was da überhaupt hinter mir liegt – dass ich tatsächlich etwas überlebt habe. Es ist so schwer, zu bleiben. Das auszuhalten. Gerade hasse ich mich dafür, dass es mir nicht egal ist – dass da dieser Funke Überlebenswillen ist, der mich nicht aufgeben lässt. Es fühlt sich falsch an, zu schreiben, dass ich neidisch auf die Menschen bin, denen es egal ist. Die sich „einfach” entscheiden, zu sterben. (Ich hoffe, Sie verstehen, dass ich weiß, dass es keine leichtfertige Entscheidung ist – und die Menschen, die sich das Leben nehmen, immer einen so starken Leidensdruck haben, dass sie keine andere Option sehen.)  

Gerade bin ich so verzweifelt, weil ich nicht einfach verschwinden kann. Weil mir die Sorge von [meiner Therapeutin] etwas ausmacht. Dass ich es nicht schaffe, tief genug zu schneiden oder das Essen ganz einzustellen. Dass ich damals überlebt habe. Und es heute tue. Ich sollte dankbar sein – dankbar, dass nach all dem immer noch ein Funke da ist, aber gerade wünschte ich, ich könnte aufgeben, weil es leichter wäre. Weil der Kampf dann ein Ende hätte. Weil es so anstrengend und beschissen ist, noch am Leben zu sein und mit den Folgen umzugehen. Dinge loszulassen, die sich so überlebenswichtig anfühlen. Zu überleben. Auszuhalten, dass die Symptome nicht einfach verschwinden. Auch wenn ich weiß, dass all das einen guten Grund hat (und mir wünschte, es gäbe ihn nicht, ich bilde mir alles ein) – dass ich [meiner Therapeutin] nach all der Zeit noch immer misstraue, dass ich mich abgeschnitten fühle, dass ich mich lieber selbst verletze, als wenn andere mir schaden können, dass ich zwar schreiben, aber nicht gut sprechen kann – ist es schwer, damit zu leben. Ist es schwer, zu wissen, es wird nicht so schnell leichter oder anders, sondern dass das Zeit braucht. Und selbst dann gibt es keine Sicherheit. Ich weiß nicht, ob ich mich Menschen jemals nah fühlen werde. Oder ob ich mich jemals sicher fühle. Ob ich mir selbst erlauben kann, da zu sein, ohne dabei unfassbar viel Schmerz ertragen zu müssen. Kann ich irgendwann aufhören, mich selbst zu zerstören?  

Wie gern würde ich sagen, dass ich nicht mehr kann. Dass meine Kraft nicht mehr reicht. Aber es gibt keine Pause. Die Welt wird nicht anhalten, egal, wie sehr ich mich zusammenrollen und weinen möchte. Egal, wie sehr ich mir wünsche, nicht mehr da zu sein. Dass ich auch nur einen Moment hätte, um durchatmen zu können, um vielleicht die Chance zu haben, zu begreifen, was eigentlich mit mir passiert ist. Um für einen Moment nicht okay zu sein. Ich möchte nichts mehr aushalten müssen.  

[Meine Sozialarbeiterin vom ABW] meinte gestern, dass all der Schmerz, die Suizidgedanken, die Tränen zeigen, dass ich gerade an einem wichtigen Punkt bin – dass ich an Gefühlen dran bin, die so schmerzhaft sind, dass ich fliehen möchte. Es ist so schmerzhaft, zu realisieren, dass dieses bedingungslose Dasein-Dürfen seitens [meiner Therapeutin] (aber auch von Ihnen oder dem ABW) statt Entlastung solch heftige Gefühle auslöst. Dass ich fast glaube, ich könnte es besser aushalten, wäre ich in Magdeburg und würde den Missbrauch noch einmal erleben – denn das ist vertraut, das passt zu meinem Narrativ, das kann ich ertragen. Es macht solche Angst, für die ich gerade gar keine Worte finde. Ich kann gar nicht richtig atmen. Es ist schwer, genau dann zu bleiben. Das hier auszuhalten – und ich fühle mich so verkehrt und falsch, weil es mir doch besser gehen sollte, jetzt, wo der Druck weg ist. Jetzt, wo ich nicht irgendwo sein muss, sondern es (zumindest im Außen) okay ist, dass es mir nicht gut geht. Aber stattdessen bin ich in solcher Not. Ich werde trotzdem weniger. Ich verletze mich trotzdem. Ich habe trotzdem das Gefühl, nicht da sein zu dürfen. Weil das in meinem Kopf ist. Weil ich mir selbst nicht die Erlaubnis geben kann. Dann habe ich Angst, dass ich längst zu kaputt bin. Wie, wenn eine entzündete Wunde zu spät behandelt wird und längst zu einer Blutvergiftung geführt hat.  

Und trotz all der Angst habe ich trotzdem das Bedürfnis, Ihnen zu sagen, dass es schon okay ist. Dass Sie sich keine Sorgen machen müssen. Es ist okay. Ich werde Montag unseren Termin wahrnehmen. Ich werde Weihnachten überleben. Silvester. Ich trage den Schmerz.  

Danke, dass Sie da sind und das aushalten.  

Bis Montag,  

mit besten Grüßen,  

Elisa 

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