Verloren

„Wenn Menschen nicht mehr leben wollen, dann wollen sie gar nicht sterben“, fängt meine Sozialarbeiterin den Satz am Telefon an und ich beende ihn: „Sie wollen nur, dass das Leben, wie es jetzt ist, nicht mehr.“ Es sammeln sich Tränen in meinen Augen, weil ich die Worte so sehr fühle – diesen verzweifelten Wunsch, das Leid könnte endlich aufhören, ich könnte aufhören, denn scheinbar, so fühlt es sich die meiste Zeit an, bin ich nicht dafür geschaffen, ein gesundes Leben zu führen. Ich bin nicht stark genug, um gegen die Essstörung anzukommen. Selbst nach einem Klinikaufenthalt ist mein Gewicht in einem besorgniserregenden Bereich – und es gelingt mir nicht, die Grenzen, die ich mir selbst auferlegt habe, zu durchbrechen.

Ich darf nicht essen. Ich darf nicht da sein. Da reicht der Funke nicht aus – und es kommt mir vor, als sei ich ausgebrannt. Gerade jetzt, wo ich all meine Kraft zusammennehmen müsste, um wieder aufzustehen, fühlt es sich an, als könnte ich nicht einmal den Kopf heben, während ich am Boden liege. Wie soll ich mich retten können? Ich bin müde davon, mich zu retten. Ich bin müde davon, mich immer wieder Ängsten stellen zu müssen – sei es der Angst, zuzunehmen, der diffusen Angst, was ist, wenn ich doch mehr esse (und wahrscheinlich wird gar nichts passieren, die Welt wird nicht untergehen, mein Vater wird nicht vor meiner Tür stehen, weil ich plötzlich sichtbarer bin) oder abseits der Krankheit zu existieren.

„Es ist auch okay, wenn Sie sich für den alten Weg entscheiden“, ist etwas, was mir meine Therapeutin in unserem letzten Gespräch gesagt hat – wichtig wäre es, überhaupt eine Entscheidung zu treffen und nicht dazwischen zu schweben. Aber was würde es für einen Menschen aus mir machen, wenn ich sage, dass ich nicht krampfhaft versuche, dass es besser wird? Es fühlt sich wie Aufgeben an. Als würde ich mein Leben verschwenden – und dann weiß ich nicht, ob es diese Überzeugung ist, nur dann etwas wert zu sein, wenn ich etwas leiste (und habe augenblicklich meine Mutter vor Augen, die mir damals, als ich den Kontakt abbrach, die Frage stellte, was denn aus mir werden solle, ich würde mein Leben wegwerfen) oder wirklich dieser Wunsch, dass es mehr geben muss als Selbstverletzung, Essstörung und Schuld. Gleichzeitig habe ich in dem Moment, in dem mir meine Therapeutin mir die Erlaubnis gab, diese tiefe Sehnsucht gespürt, diese annehmen zu dürfen – dieser tiefe Wunsch, da sein zu dürfen, dass es schlimm sein darf, endlich schlimm genug. Es ist so seltsam, dass ich den Missbrauch überlebt habe, nur um jetzt nicht essen zu können.

Es fühlt sich an, als würde ich versagen – weil ich jetzt damit hadere, ob ich überhaupt am Leben sein möchte, vielleicht, weil ich tatsächlich die Möglichkeit habe, eine Entscheidung zu treffen. Mich für oder gegen das Leben zu entscheiden. Damals hatte ich die Option nicht – ich habe einfach überlebt. Und jetzt kann ich mich entscheiden – und für das Leben zu entscheiden, bedeutet auch, sich für die Realität zu entscheiden. Dafür, dass mein Vater mich sexuell missbraucht hat. Manchmal kommt es mir vor, als sei nichts mehr von mir übrig. Als würde ich jetzt erst bemerken, wie viel von mir verloren gegangen ist, selbst in den Jahren, in den verzweifelten Versuchen, mich nicht zu verlieren. Gibt es überhaupt noch eine Elisa? Ist da noch etwas von mir – zwischen all dem Verschwinden, dem Trauma, dem Schmerz?

Vor einigen Tagen habe ich Kinderfotos von mir gefunden, als ich aufgeräumt habe – und ich habe dieses Kind angestarrt, ohne greifen zu können, dass ich das war. Dass es nicht das Kind ist, das einige Jahre später missbraucht wurde, sondern, dass ich dieses Kind gewesen bin, das in die Kamera lächelt. Das keine Idee davon hat, was mit ihr geschehen wird. Für einen Moment fühlte es sich an, als sei dieses Kind gestorben – damals, als diese Dinge geschahen. Mit jeder weiteren Berührung, mit jeder Grenzüberschreitung. Vor einigen Monaten habe ich meiner Therapeutin in einem Brief geschildert, welche Ausmaße der Missbrauch in seinen schlimmsten Phasen angenommen hatte. Und vielleicht war es dieses Brechen des Schweigens, was mich so aus der Bahn geworfen hat. Und dann fühle ich mich umso schwächer, weil ich das kaum aushalten konnte – weil ich mich stattdessen an der Essstörung oder der Selbstverletzung festhalte, statt zu fühlen. Dass ich immer noch, nach so vielen Jahren, weglaufen möchte, weg von der Realität. Dann weiß ich nicht, ob ich mich in der Opferrolle verloren habe – oder in der Täterrolle, weil ich immer noch und immer wieder an der Schuld festhalte, daran, dass etwas mit mir falsch ist, dass ich es nicht anders verdient habe, als jetzt zu leiden. Als jetzt zu hungern. Als jetzt verloren zu gehen. Ich hätte das Schweigen nicht brechen dürfen.

Es erschreckt mich, wie gewaltig diese Stimme in meinem Kopf wird, obwohl mein Vater nicht mehr Teil meines Lebens ist. Trotzdem ist er überall. Er wird immer der Mann sein, der die Grenzen überschritten hat. Und ich die Tochter, die das erlebt (und zugelassen) hat. Es wird immer Inzest sein. Wenn mir das bewusst wird, fühlt es sich wie eine Tatsache an, über die ich nie hinweg kommen werde. Es fühlt sich an, als wäre ich für immer beschmutzt und eklig – allein wegen der Tatsache, dass es passiert ist und dann kann ich mir selbst nicht verzeihen, dass ich diese Dinge getan habe, weil ich nur so überleben konnte. Dann geht es weniger darum, was andere von mir halten – all das „Sie sind nicht schuld“, „Sie können sich nicht die Schuld dafür geben, zu diesem Zeitpunkt da gewesen zu sein.“ prallt von mir ab, weil ich mir noch immer viel zu sehr wünsche, es wäre nie passiert. Ich hätte diese Dinge nicht tun müssen. Ich könnte den Dreck von mir waschen – aber egal, wie oft ich mich dusche, der Ekel verschwindet nicht. Nicht, wenn ich immer weniger werde. Nicht, wenn ich mir Wunden zufüge. Ich kann nicht vor mir selbst fliehen – nicht vor dem, was ich getan habe. Ganz gleich, ob ich es getan habe, um zu überleben, dass alles andere noch schlimmer, noch gefährlicher gewesen wäre – ich werde immer damit leben müssen.

Und vielleicht möchte ich deswegen fliehen, bleibe in der Erstarrung, entscheide mich weder für das Leben noch dagegen. Weil sich beides wie Optionen anfühlt, die ich nicht (mehr) aushalten kann. Ich habe schreckliche Angst davor, zu sterben. Tatsächlich zu verschwinden. (Ich habe einmal ein Zitat gelesen, in dem es, wenn ich mich richtig erinnere, hieß, dass man, wenn man verschwindet, gar nicht wirklich verschwinden möchte, sondern nur hofft, gefunden zu werden. Und damals musste ich verschwinden – ich musste dünner werden, mit dem Essen aufhören, um die Chance zu haben, gesehen zu werden. (Und ich frage mich, was es heute ist, das diese unglaubliche Not wieder ausgelöst hat, warum dieses Kind in mir so verzweifelt an dieser Überlebensstrategie festhält und so unfassbare Angst hat, damit aufzuhören – zumal es sich in vielen Momenten so anfühlt, als könnte ich gar nicht anders, als hätte ich keine Chance gegen diesen Teil, als wäre ich nicht stark genug, um das einzugrenzen, um wieder mit dem Essen anzufangen, um mir wieder mehr zu erlauben. Um darauf zu vertrauen, dass ich gesehen werde – weil es heute andere Menschen sind. Aber Vertrauen scheint furchtbar schwer zu sein.))

Ich fühle mich furchtbar hilflos und verloren – weil nur ich mich retten kann. In den vergangenen Monaten – auch durch den Klinikaufenthalt, in der die Bedingungen, die Essstörung mit Hilfe etwas loslassen zu können, günstig gewesen sind – ist mir das umso bewusster geworden. Ich bin es, die mich begrenzt. Ich muss mich für oder gegen das Leben entscheiden – dafür, dem Leben eine Chance zu geben. Ich muss mich der Angst stellen, die es bedeuten würde, anders zu handeln: sei es über den Missbrauch wirklich zu sprechen oder zu essen. Und dann habe ich das Gefühl, das nicht aushalten zu können, weil ich die meiste Zeit allein mit mir bin – wenn ich esse, bin ich allein. Wenn ich aus dem Büro meiner Therapeutin gehe, bin ich allein. Ich bin allein mit mir und den Folgen des Traumas. Ich muss die Schuld tragen. Die Scham. Diesen Ekel. (Und dann ist es leichter, sterben zu wollen. Mich an der Essstörung festzuhalten. Als andere Gefühle zu fühlen. Als den Gedanken zuzulassen, dass mich keine Schuld trifft – und dass ich am Leben sein darf, weil es bedeutet, dass das, was ich mir mein Leben lang erzählt habe, nicht stimmt. Und ich gewöhne mich nicht an den Schmerz, den Schock, dieses Gefühl, dass alles um mich zusammenbricht.)

Es kann mich niemand retten. Ich kann verhungern, wenn ich das möchte (auch wenn meine Therapeutin dann Maßnahmen einleiten würde). Aber wie soll ich für mich am Leben sein (wollen), wenn ich doch nicht einmal da sein darf? Wenn ich gerade so existieren darf, wenn ich mir Unmengen von Schmerz zufüge (und mir paradoxerweise wünsche, dass es irgendwann so viel Schmerz ist, dass es aufhört weh zu tun)? Wie soll ich mir eine Heimat sein, wenn ich es kaum ertrage, in diesem Körper zu sein? (Es fühlt sich so unerträglich an, mich für dieses Leben, für diesen Körper, für diese Realität zu entscheiden, genauso wie es sich unerträglich anfühlt, mit jedem Tag ein bisschen mehr zu sterben und mich zu verlieren. Keine Option ist gut. Oder besser.)

2 Kommentare zu „Verloren

  1. Liebe Elisa

    Das bricht mir das Herz zu lesen in welcher Situation du dich befindest .
    Ich kann es so gut nachvollziehen ,bitte Gib nicht auf , das Leben ist zu kurz und bald ,egal für was wir uns entscheiden , ist alles auf ewig vorbei ,wir haben nur diese eine Chance . Auch wenn es nur Momente sind in denen man das schöne dieser Welt erleben darf , liebe Grüße Adilah

    Like

  2. Liebe Elisa,
    einfach nur ein gelesen haben 💙 deine Worte so unglaublich tief, so nah – du hast da so viel geschrieben, daß Miss so nachfühlen kann…
    … du hast Worte gefunden und aufgeschrieben, auch wenn es seltsam sein mag – sie machen so viele Gedanken…

    Die Enscheidung ist schwer … so ein dazwischen weitertreiben- bis sie von alleine fällt…
    💙
    ganz liebe blaue🐘Grüße

    Gefällt 1 Person

Hinterlasse einen Kommentar