Mail an meine Therapeutin

Liebe Frau M.,  

es ist schwer, Worte zu finden, weil es mir vorkommt, als gäbe es gar keinen Ausdruck für diesen tiefen Schmerz, den ich empfinde. Ich kann kaum atmen, weil es sich anfühlt, als läge ein tonnenschweres Gewicht auf meiner Brust.  

Ich weiß nicht, warum mich diese Gefühle gerade so einholen – warum es sich gerade wieder so überwältigend schmerzhaft anfühlt, dass die Übergriffe passiert sind und ich an diesem Punkt bin. Dass ich mir kaum erlauben kann, da zu sein. Dass es sich anfühlt, als wäre ich unwiderruflich kaputt, beschmutzt. Als könnte ich mich nie davon erholen, nie wieder wirklich lebendig sein, weil ich damals verloren gegangen bin. Weil ich, egal, wie sehr ich es mir wünsche und hoffe, diesen Teil von mir nicht retten kann. Wenn ich früher gesprochen hätte. Wenn ich stärker gewesen wäre. Wenn ich den Mut gehabt hätte, mich zu wehren. Es hätte so viele Abzweigungen gegeben, wenn ich nicht aufgegeben hätte.  

Gerade fühlt es sich so schwach an, in diesem Zustand überlebt zu haben – dass alles, was ich geschafft habe, ist, noch am Leben zu sein. Und das nicht sonderlich gut. Der erste Übergriff ist über ein Jahrzehnt her. Vor drei Jahren bin ich nach H. gezogen. Und jetzt bin ich so erstarrt, dass ich gegen mich selbst nicht ankomme. Dass es sich anfühlt, als würde jedes Hilfsangebot an mir abprallen, als könnte mich niemand erreichen, als dürfte mich niemand erreichen. Damals konnte ich es aushalten, mit meinem Vater in einem Haus zu wohnen. In dem Bett zu schlafen oder auf der Couch zu sitzen, wo all das passierte. Ich habe mein Abitur gemacht. Und jetzt verzweifele ich, weil sich Zunehmen wie das Schlimmste auf der Welt anfühlt, obwohl das Schlimmste doch längst passiert ist. Es ist schwer, daran festzuhalten, dass das hier besser ist: dass ich hier in H. zumindest die Chance habe, zu heilen, auch wenn es sich im Moment so anfühlt, als würde ich verrückt werden, als hätte ich mich nur noch mehr verloren, weil plötzlich alles weh tut. Weil nichts übrig bleibt, was nicht vom Missbrauch betroffen ist – mein Vater ist überall, obwohl er in [der Heimatstadt] ist. Es fühlt sich an, als würde er immer hinter mir stehen – immer da sein und mich daran erinnern, dass ich nicht normal bin. Dass ich noch sehr versuchen kann, anders zu sein, das Schweigen zu brechen – ich werde ihm nie entkommen können. Wenn ich voller Misstrauen in Ihrem Büro sitze und kaum Ihren Worten glauben kann. Als ich in der Klinik in der Gruppentherapie saß und kein Wort herausbringen konnte, aus Angst, zu viel zu verraten und dann diejenige zu sein, die sich gegen ihren Vater nicht wehren konnte. Die bei Partnerschaft oder erster Beziehung an ihren Vater denken muss, statt an einen Gleichaltrigen. Wenn mir ein Mann begegnet und da sofort Angst ist, weil doch damals auch meine Existenz ausreichte, damit mein Vater die Grenzen überschritt – ich war einfach zu sichtbar, egal, wie sehr ich versucht hatte, zu verschwinden.  

Der Wunsch, an meiner Schuld festhalten zu können, zerreißt mich fast. Dass es mein Versagen ist, dass ich nach all den Jahren so beschädigt bin, dass Sie das aushalten müssen, dass ich mich nicht in der Lage sehe, zu studieren oder eine Ausbildung zu machen, dass ich so krank geworden bin, weil ich all das zugelassen habe. Wenn meine Freundin mir sagt, wie wütend sie auf meinen Vater ist, kann ich das kaum aushalten und schäme mich gleichzeitig, weil ich immer noch daran festhalten möchte, dass es einen guten Grund gab, warum er das getan hat – dass er es nicht besser wusste, dass er keine Kontrolle hatte. Ich wünschte, er wäre alkoholisiert gewesen. Oder wahnhaft. Oder ganz offensichtlich gefährlich. Aber er war es nicht. Wenn er eins in den Momenten gewesen ist, dann präsent und da. Ich möchte trotzdem sagen, dass es schon okay ist – dass es okay war, weil es doch nur um mich ging. Weil ich doch all die Wut gar nicht wert bin – ich bin es nicht wert gewesen, beschützt zu werden, warum sollte ich es jetzt sein? Warum sollte ich jetzt den Menschen glauben können, die sagen, dass sie da sind? Warum sollte Gesehen werden jetzt etwas Gutes sein – wenn es doch früher so viel Verletzung mit sich gebracht hat? Und es ist so verwirrend, weil ich im selben Moment solche Angst davor habe, wieder allein zu sein. In diesem Zustand, in dem der Missbrauch nicht da sein durfte – indem all der Schmerz nicht präsent war. Wo ich wusste, dass niemand mir glauben würde. Wie verzweifelt ich nach Zeugen suche – danach, dass es doch schlimm sein darf und es gleichzeitig gar nicht ertragen kann, dass es wirklich so ist, wie es ist.  

Danke, dass Sie da sind. Ich passe auf mich auf, fest versprochen.  

Mit besten Grüßen,

Elisa

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