erwachsene Entscheidungen

Liebe Frau S., 
ich wollte eigentlich warten, bis ich ein bisschen besser atmen kann, aber da das wohl heute nicht mehr passieren wird, sondern ich eher befürchte, dass es abends noch einmal schlimmer wird, versuche ich den Moment jetzt zu nutzen, wo ich die Tränen halbwegs im Griff habe. Ich bin panisch, verzweifelt und ich weiß wirklich nicht, was mich das momentan aushalten lässt. Was mich davon abhält, zu schreien, gegen einen Baum zu fahren oder die Tabletten zu nehmen, die da in der Küche liegen. Ich weiß es nicht. Vielleicht bin ich durch das ganze Weinen auch so erschöpft, dass ich dafür gar keine Energie mehr habe – eben gerade war ich plötzlich so tief erschöpft, dass ich versucht habe, zu schlafen, aber selbst da war der Kopf noch zu laut und die Stille zu leise. Mein Herz hat zu stark geschlagen (ich spüre es gerade im ganzen Körper), ich bekomme zu wenig Luft und mein Kopf dröhnt, was kein Wunder nach so vielen Tränen und viel zu wenig Trinken und Essen. Seltsam, wie stark man Gefühle auch körperlich spürt – wie schwer es sein kann, zu atmen und Luft zu bekommen, ganz gleich, wie sehr ich versuche, tief zu atmen. Meist endet es nur darin, dass ich noch mehr oder wieder weine. 
Weil ich gerade zu erschöpft bin, um neue Worte zu finden, teile ich die bereits geschriebenen Worte mit Ihnen:
„Ich bin überfordert damit und es macht mir Angst, dass ich so erwachsen sein muss – dass es keine Umarmungen mehr gibt und dass ich jetzt eine ganze Woche überleben muss, weil es langfristig sinnvoller ist, hilfreicher. Es ist so anstrengend, immer wieder handeln zu müssen, weil es langfristig besser ist – obwohl es jetzt ganz viel Schmerz verursacht, ganz viele Tränen und sich unaushaltbar anfühlt. Ich kann nicht mehr, aber es ist so egal, weil ich nicht anhalten kann. Weil ich immer wieder dadurch muss, weil es das Beste für mich ist, weil es so sinnvoller, hilfreicher ist, dabei möchte ich im Moment nur einen kurzen Moment klein und schwach sein dürfen – ich möchte in den Arm genommen werden, ich möchte, dass die Tränen gesehen werden. Ich weiß, irgendwo, tief in mir, dass es weitergeht, dass vielleicht irgendwann das Gefühl schwächer wird und nicht mehr das Gefühl habe, völlig zu fallen oder gänzlich ohne Boden zu sein, aber jetzt, jetzt in diesem Moment tut es schrecklich weh. Jetzt in diesem Moment weiß ich nicht, wie ich es aushalten soll  wie es weitergehen soll. Irgendwann werde ich ihr sicher keine Mails mehr schreiben dürfen – oder dann ist es nicht mehr okay, sie anzurufen, weil ich groß sein muss, weil ich lernen muss, ohne sie zu atmen und ich fürchte mich so sehr davor. Es ist so eine tiefsitzende, alles einnehmende Angst – und hier ist niemand, der das mit mir aushält. […] und ich könnte gerade nur noch mehr weinen, weil ich immer wieder solch erwachsene Entscheidungen treffen muss, die wehtun, die dafür sorgen, dass ich kaum atmen kann und den ganzen Tag weine, ohne dass ich es mit jemanden teilen kann und ich gar nicht hören möchte, dass sie stolz auf mich ist, nicht deswegen, weil es sich für mich wie ein Weltuntergang anfühlt. Ich weiß nicht, wie ich das schaffen soll – wie ich es schaffen soll, zu essen, wie ich es schaffen soll, zu überleben. Ich weiß nicht, wie ich es aushalten soll, mit meinem Vater in einer Stadt zu sein, wie ich jemals damit aufhören soll, mich selbst zu verletzen, wie ich sagen soll, was passiert ist. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass alle denken, dass ich es kann – dass ich es muss. Dass meine Psychologin glaubt, ich halte all das aus. Dass ich groß sein kann – groß sein muss und es fühlt sich an, als sei da kein Platz mehr für die kleine Elisa, keine Platz für genau diese Momente, in denen ich nur weinen kann und vor lauter Schluchzen und Schmerz keine Luft bekomme. Es wird nicht leichter. Ich fühle mich immer verschwundener, immer verzweifelter, aber gleichzeitig weiß ich, dass es so sein muss – dass es im Grunde egal ist, wie ich mich jetzt fühle, dass ich aufgeben möchte, dass ich nicht mehr kann – weil ich nicht stehen bleiben kann. Weil ich nicht sterben darf. Weil ich es am Ende immer wieder überleben werde, ob ich es möchte oder nicht. Das hat alles keine Bedeutung. […] Es fühlt sich alles nicht real an. Es fühlt sich wie ein schlechter Film an, ein Albtraum, aus dem ich nicht aufwachen kann. Ich bin überhaupt nicht echt und so viel Gefühl, so viele Tränen, so viel Schmerz kann gar nicht in diesen Körper passen. Es kann mir gar nicht so schlecht gehen, wie es sich anfühlt. Es fühlt sich unglaublich schrecklich an. Wie die Hölle. Und es hört nicht auf. Ich habe so viel Angst. Ich habe richtig, richtig viel Angst.“
Neben diesem Chaos hatte ich vorhin einen Termin beim Jugendamt (ich glaube, ich sollte für Sie auch einen Zettel schreiben, damit ich nicht „vergesse“, was ich Ihnen vielleicht erzählen sollte), der zusätzlich sehr anstrengend war. Es ging um das ambulant betreute Wohnen, am besten ich erzähle Ihnen das am Donnerstag, statt es zu schreiben. Ich hatte vorher die Angst, ich könnte zu gut funktionieren und nicht ausdrücken, dass ich Hilfe brauche (schließlich bin ich ziemlich gut darin, nicht zu zeigen, dass es mir schlecht geht, wie Sie so schön gesagt haben – immerhin war ich trotzdem heute bei diesem Gespräch, obwohl ich wirklich dachte, ich baue zumindest auf dem Weg nach Hause einen Unfall; echt krass, dass Autofahren mittlerweile sehr automatisch geworden ist), aber scheinbar ist Hilfebedarf da. Am Ende war ich regelrecht erschlagen und fast „schockiert“, dass ich doch nicht so gut funktioniere – oder die Dinge, die ich tue, nicht so normal sind, wie sie sein sollten. Ich habe jetzt Ende September einen Hausbesuch vor mir – und muss demnächst zu einem Gutachter, soweit ich das verstanden habe. Am Ende hat mir die Sozialarbeiterin gesagt, dass sie nicht damit gerechnet hat, dass ich komme – und wenn ich nicht so fertig gewesen wäre, hätte ich vielleicht gelacht, weil ich wahrscheinlich selbst mit 40° Fieber oder der tiefsten Krise dahin gegangen wäre, weil es viel wichtiger ist, zuverlässig zu sein und zu funktionieren. (Außerdem hätte ich den Termin telefonisch absagen müssen – und das geht noch weniger als zu einer fremden Person zu einem Gespräch zu gehen.)
Bei der Erschöpfung, die ich gerade empfinde, müsste ich wahrscheinlich Wochen schlafen, aber ich habe die Befürchtung, dass ich nicht zur Ruhe kommen werde. Ich versuche zu atmen. Durch die Stunden zu kommen. Ganz ehrlich, ich habe keine Ahnung, wie so viel Gefühl in mich hineinpassen kann – wie ich so, so viel fühlen kann. Dass Worte gar nicht ausreichen und mein Atem scheinbar auch nicht. Ich weiß es nicht. 
Danke, dass Sie da sind.
Alles Liebe, Elisa.

2 Kommentare zu „erwachsene Entscheidungen

  1. Liebe Elisa, ich fühle von ganzem Herzen mit Dir. Und ich bin so froh, dass Du Dir immer wieder Hilfe suchst (eine ganz große Stärke von Dir). Ich habe gerade gegoogelt, was das ist und gedacht, dass dies genau der richtige Ansatz ist. Eine sehr, sehr gute Idee. Du kannst allein wohnen und wirst nur nach Bedarf unterstützt. Ich wusste gar nicht, dass es so etwas gibt. Liebe Elisa, Du hast so eine Kraft, diese Kraft wird dafür sorgen, dass Du dies alles überstehst und irgendwann sagst, dass es diese unvorstellbar schlimmen Zeiten in Deinem Leben gab, sie aber vorbei sind. Lass‘ Dich in Gedanken umarmen.

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