Suche in der Vergangenheit

Ich tippe in die Suchleiste das Wort „Vater“ ein und scrolle durch vergangene Blogeinträge. Ich bin auf der Suche – nach Dingen, die ich übersehen habe. Dingen, die ich hätte sehen müssen. Inzwischen bin ich in dem Jahr angekommen, in dem ich das erste Mal darüber gesprochen habe, dass mein Vater mich missbraucht hat. Es ist ein ganz seltsames diffuses Gefühl, was ich habe – Ekel und Scham, weil sich an den Gefühlen von damals so wenig geändert hat (aber wie auch, wenn ich das, was passiert ist, noch immer in mir trage, wenn es mich noch immer vergiftet, wenn ich mein Schweigen selbst Jahre danach noch immer nicht gebrochen habe?).

Vor einigen Tagen habe ich mich daran erinnert, dass es mein Vater war, der mein Gewicht kontrollierte, als die Essstörung das erste Mal so stark wurde (Ich sehe schon an seinem Gesicht, dass heute wieder der Tag ist. Der Tag, an dem er die Waage aus dem Bad holt und mich zwingt, mich darauf zu stellen. Vor seinen Augen. Ich sehe die Zahl auf der Waage, beiße mir von innen auf die Lippe, um die Tränen zurückzuhalten. „Du hast zugenommen“, mit einem Lächeln schreibt er die Zahl in den Kalender. Ich will einfach nur im Erdboden versinken. Will nicht mehr sein. (Auszug aus einem alten Blogeintrag)). Und dass er derjenige war, der mich zum Kinderarzt brachte und dafür sorgte, dass ich Hilfe bekam. Das, was ich lange Zeit als Fürsorge betrachtet habe, als Zeichen, dass ich ihm vielleicht doch wichtig bin, dass er mich geliebt hat, bekommt auf einmal einen bitteren Beigeschmack. Auf einmal wird mir bewusst, dass er sich in diesen Momenten nicht um mich gesorgt hat, sondern darum, dass der Missbrauch auffliegt. Dass er in die Bredouille gerät.

(Und dass es genau das ist, was es gerade so schwer zu ertragen macht, dass ich zunehmen muss – dass meine Therapeutin mich so sehr unter Druck setzt. Ich habe Angst, mehr zu werden. Ich habe Angst, wieder so sichtbar zu sein, dass ich mich nicht anders schützen kann. (Die kleine Elisa hat schreckliche Angst, dass mein Vater uns wieder sieht.) Und auch wenn ich mir rational nicht einmal vorstellen kann, inwiefern meine Therapeutin (auf sexuelle Weise) meine Grenzen überschreiten sollte, bleibt die Angst und das Gefühl, mich schützen zu müssen, auf die Art, die mich damals geschützt hat. Weil ihr Wunsch, dass ich da bin, einen Hintergedanken haben kann – dass sie sich das nicht meinetwegen wünscht. Ich bin so in Todesangst, dass ich kaum denken kann. Dass ich sogar daran gedacht habe, in die Klinik zu gehen, um vor ihr fliehen zu können – um in Sicherheit zu sein. Um selbstbestimmt zu bleiben, so paradox es auch klingen mag, dass ich lieber in die engen Strukturen der Klinik flüchte, als mich von ihr bestimmen zu lassen. Als zu riskieren, dass sich auf jemanden einlassen wieder bedeutet, dass ich Dinge zugelassen habe, die ich nicht hätte zulassen dürfen.)

Wenn ich manche Worte von damals lese, bin ich erschüttert darüber, in welchem Schmerz ich war – weil ich mich so wenig daran erinnern kann. Ich kann mich nicht daran erinnern, wie schlimm die Essstörung damals tatsächlich war, dass sie nie weg war – und dass das Ausmaß jetzt vielleicht gar nicht so viel schlimmer ist, als ich gedacht habe. Es gab immer wieder Punkte, an denen ich so wenig wog, dass ich kurz vor der Klinik stand – dass sich meine damalige Therapeutin (oh, wie ich sie vermisse!) große Sorgen machte. Es war immer klar, dass ich sterben wollte – es gibt kaum einen Blogeintrag von damals, gerade in meiner Schulzeit, in dem ich nicht davon schrieb, dass ich mir wünschte, verschwinden zu können. Dass ich nicht mehr da sein möchte. Ich schrieb nie von meinem Vater oder den Dingen, die er tat. Manchmal schrieb ich von meiner Mutter – dass sie mich nicht sah, vor allem, als ihr klar wurde, dass meine Vorstellungen vom Leben nicht ihren entsprachen. Als ich nach meinem Abitur (nur eine 1,5) einen Freiwilligendienst machte, statt direkt zu studieren.

Es gibt einen Brief, den ich an meinen Vater richtete, die letzten Worte darin waren: Gib dir bitte nicht die Schuld daran, dass aus mir das geworden ist, was aus mir geworden ist. Als ich sie gestern las, habe ich kurz bitter aufgelacht, dann habe ich geweint. In dem Brief schrieb ich davon, dass es mir leid tat, dass ich gegen die Suizidgedanken nicht ankam – dass ich nicht stark genug war, um das Leben auszuhalten – Worte, die jetzt eine ganz andere Bedeutung bekommen, jetzt, wo mir bewusst ist, dass es Gründe gab, warum mein Vater nie Thema in meinen Blogeinträgen war. Es durfte keine Realität sein, darf es auch heute nicht sein. Ich musste überleben. Ich kann gar nicht fassen, wie ich es geschafft habe, all das zu ertragen – zu überleben, obwohl da solch schlimme Dinge passiert sind. Dann sprengt es meine Vorstellungskraft, dass ich noch drei Jahre mit meinem Vater unter einem Dach gelebt habe – dass ich in dem gleichen Bett geschlafen habe, auf dem selben Sofa saß, tagtäglich in der Umgebung war, in der Missbrauch passierte. Heute fühle ich mich schwach und zerbrochen, weil ich es nicht einmal aushalten kann, meinen Bruder zu sehen. Weil ich mich nicht einmal in meiner eigenen Wohnung wirklich sicher fühle – und ich weiß nicht, wie ich es damals aushalten konnte, wie es sein kann, dass ich weiter funktionierte.

Was für eine Angst ich gehabt haben muss. Bis heute weiß ich nicht, warum mein Vater aufgehört hat – schließlich ist das keine Frage, die man einfach so stellt: Du, Papa, warum hast du aufgehört, in mein Zimmer zu kommen – und mich zu missbrauchen? Bin ich dir zu alt? Ist es dir zu heikel, jetzt, wo ich in Therapie bin? Passe ich nicht mehr? Wann wusstest du eigentlich, dass ich mehr als eine Tochter sein sollte? Oder war es eine fixe Idee – und du konntest einfach nicht anders? Wusstest du es, als ich, als ich kleiner war, nachts zu dir kam, wenn ich Albträume hatte und mich sicher fühlen wollte? Es gibt keine Antwort auf diese Fragen – und selbst wenn doch, bin ich nicht sicher, ob ich sie hören möchte, auch wenn ich sie mir tagtäglich stelle.

Ich versuche zu verstehen, wie all das passieren konnte – wo der Punkt war, an dem ich es hätte bemerken können. Stattdessen war ich blind. Hätte ich nicht sehen müssen, dass mein Vater nicht normal war? Schließlich habe ich doch bei meiner Mutter immer gewusst, dass ich vorsichtig sein muss – auch wenn ich nicht sicher weiß, ob ich als Kind eine Vorstellung davon hatte, dass meine Mutter psychisch krank war. Ich wusste, ich musste passen, die gute Tochter zu sein, damit es meiner Mutter gut ging – und sie nicht gefährlich wurde. Vielleicht hat mich das blind gemacht. Vielleicht war ich so hungrig nach Liebe, nach Zuneigung, dass ich wirklich glauben wollte, dass das, was mein Vater tat, ein Zeichen von Liebe ist, auch wenn es mich anekelte und ich mich ganz schlecht dabei fühlte. (Und vielleicht ist es auch das, was ich versuche mit der Essstörung zu kontrollieren – dass ich nie wieder so hungrig nach Zuneigung, nach Nähe sein werde, wie ich es damals war – dass mein Hunger nie wieder dazu führt, dass ich zulasse, dass meine Grenzen überschritten werden.) Es fällt mir schwer, meinen Vater als verrückt zu bezeichnen – auch wenn ich rational weiß, dass ein gesunder Mensch niemals die Grenze zwischen Vater und Tochter überschreiten würde. Dann möchte ich daran festhalten, dass es an mir lag – dass ich etwas ausgestrahlt habe, dass mein Vater gar nicht anders konnte, weil mein Dasein allein eine Einladung war. Bis zum Missbrauch war mein Vater doch das Normalste, was es in meiner Familie geben konnte (und dann ist da diese leise Stimme, dieses „Ich hätte es wissen müssen, ich hätte es sehen müssen“).

Es gibt immer wieder Momente, in denen ich so verzweifelt nach einer Entschuldigung suche – dass er damals betrunken war. Nicht wusste, was er tat. Dass er wahnhaft war. Dann wünsche ich es mir fast, weil es leichter wäre – weil es leichter wäre, ihn als den gefährlichen Mann zu sehen, der er war. Wenn er mich wirklich verletzt hätte – beinahe hätte ich geschrieben, wenn es wirklich Gewalt gewesen wäre (aber es war Gewalt, ich weiß, auch wenn ich über dieses Wort stolpere) – wenn er mich geschlagen hätte, wenn es irgendwelche Spuren gegeben hätte, außer jenen auf meiner Seele, vielleicht könnte ich mir dann selbst mehr glauben, dass es diesen Mann tatsächlich gibt. Vielleicht könnte ich mich dann besser schützen, vielleicht wäre weniger Scham da, weil die Liebe zu meinem Vater vielleicht nie so groß gewesen wäre, wenn er die ersten elf Jahre meines Lebens gewalttätig gewesen wäre. Vielleicht hätte ich mich eher gewehrt – vielleicht hätte sich der Missbrauch nicht über so viele Jahre erstreckt. Im Moment habe ich oft den Gedanken, dass ich irgendetwas hätte tun können – dass ich schuld daran bin, dass ich heute so kaputt bin, weil ich es nicht geschafft habe, den Missbrauch zu beenden (es war mein Vater, der aus irgendeinem Grund entschied, dass er mich nicht mehr brauchte), weil ich mich nicht viel früher anvertraut hatte (vielleicht wäre es jetzt nicht so schwer, wenn ich bereits früher Worte dafür gehabt hätte, wenn ich all das Gift nicht all die Jahre in mir getragen hätte), weil ich so lange gebraucht hatte, um tatsächlich mein Elternhaus und schließlich meine Heimatstadt zu verlassen.

„Am Ende des Tages war mein Vater schrecklich betrunken. Er hat überhaupt keine Grenzen gekannt. (Es kam zwar nicht zu irgendwelchen sexuellen Berührungen, aber seine Nähe, seine Annäherungsversuche war schrecklich unangenehm und kaum aushaltbar.) Ich habe mich nachts selbstverletzt, weil ich es nicht anders mehr ausgehalten habe.“, waren die verhängnisvollen Worte, die ich damals an eine Kliniktherapeutin schrieb. Ich erinnere mich noch bis heute daran, wie wir zusammen auf einer Parkbank saßen und sie mich fragte, ob da mehr gewesen ist, weil sie Bauchschmerzen dabei bekommen habe, als sie diese Worte las. Sie stellte die Frage so, dass ich gar nicht anders konnte, als ehrlich zu sein – als zu nicken, weil Sprechen in diesem Moment nicht funktionierte. Seit diesem Tag sind fünf Jahre vergangen. Und auch wenn ich älter geworden bin, fühle ich mich noch heute wie diese Neunzehnjährige, die gerade eben erst realisiert hat, dass das Missbrauch war – und deren Welt zusammenbrach, weil auf einmal nichts mehr wie vorher war. (Ich bin noch immer so sehr in Schockstarre.)

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