Außerhalb der Krankheitsgrenzen

Es ist eine dieser Therapiestunden, bei denen ich die Praxis verlasse und mich frage, warum meine Psychologin überhaupt noch mit mir arbeiten möchte. Warum man ich nicht aufgibt und ich endlich die Erlaubnis habe, mir das Leben zu nehmen. Wenn ich doch die Erwartungen nicht erfüllen kann. Was bleibt, ist Scham. Scham, darüber krank zu sein, diese Konstrukte aufgebaut zu haben und nicht „normal“ zu sein. Das Gefühl zu haben, die Krankheit zu brauchen, um nicht allein zu sein. Das Helfernetz unter keinen Umständen verlieren zu dürfen – denn wer sieht mich dann, wer ist dann meine (Ersatz)Mama?

Meine Psychologin hat mir offen und ehrlich gesagt, dass ich mit 30 oder 40 Jahren, wenn ich mein Beziehungsmodell so aufrechterhalte, die Bedürftigkeit, die Suche nach einer Mutter, die sich um mich kümmert, Drehtürpatientin in der Psychiatrie werde – dass ich in ein betreutes Heim für psychisch Kranke gesteckt werde. Auch wenn sie gleich danach gesagt hat, dass sie sich das nicht für mich wünscht und mich woanders sehen möchte – im Leben – mit einer Familie – mit wahrer Lebensfreude – so wussten wir beide, dass es eine mögliche Zukunft ist. Ich erinnere mich daran, als ich das erste Mal mit 18 Jahren in der Erwachsenenpsychiatrie war und zu mir gesagt habe, dass ich nie so wie diese Menschen werden möchte, die mit 40 oder 50 Jahren immer wieder in der Klinik sind, die mit einem Zucken der Schulter begrüßt werden, die entlassen werden, um in zwei Wochen oder drei Monaten wieder Patient zu sein. Mir ist in dem Moment, als meine Psychologin diese Zukunft in den Raum warf, Worte meiner Lieblingskrankenschwester eingefallen – in der es auch um die Möglichkeit ging, in einem sicheren betreuten Heim zu sein, statt sich dem Leben zu stellen. Dass sie sich mehr wünscht, für mich.

Da sind diese Menschen, die sich mehr für mich erhoffen – die mich im Leben sehen wollen, ohne frische Schnitte auf dem Körper, ohne sichtbare Knochen, mit Lebensberechtigung. Das macht mir so höllische Angst – selbst jetzt noch. Obwohl meine Psychologin seit fünf Jahren an meiner Seite ist. Obwohl ich in Kliniken, in Therapiesettings immer wieder gehört habe, dass auch mein Leben wertvoll ist – ganz gleich, was mit mir passiert ist. Es fühlt sich bedrohlich an, an ein Leben außerhalb der Grenzen der Krankheit zu denken. Außerhalb der quälenden Sehnsucht nach einer Mutter, die mich rettet, die mich beschützt. Außerhalb des Gefühls, wertlos zu sein. Außerhalb des Gefühls, klein bleiben zu müssen. Außerhalb das Gefühls im Trauma zu ersticken – ersticken zu müssen, weil es doch meine Identität ist, das missbrauchte Kind zu sein. Das Kind, das verletzt wurde, verlassen, benutzt. Ich bin doch zerbrochen. Es ist eine Ambivalenz – der Wunsch, danach, dass man an mich glaubt daran, dass aus den Scherben wieder etwas Ganzes werden kann – und gleichzeitig der Wunsch, zerbrochen sein zu dürfen. Tatsächlich am Boden, vielleicht ein bisschen lebensunfähig, ein bisschen verloren. Es bringt mich selbst an den Rande der Verzweiflung, zu spüren, wie groß der Wunsch ist, gesehen zu werden – in diesem Schmerz, dem Leid, dass es mir furchtbar schlecht geht und ich nicht mehr (so) leben möchte. Dass es mir Angst macht, wenn mir Menschen sagen, ich mache Fortschritte, ich bin doch immer noch da, es gibt so viel mehr als das Trauma, als den Missbrauch, als den Schmerz.

Ich frage mich, wie so ein Leben möglich ist – ein Leben mit gesunden Beziehungen, die okay sind. Außerhalb eines Helfernetzes. Wie Menschen am Wochenende zuhause sitzen und okay sein können – wie sich andere aushalten können, ohne das Gefühl zu haben, sich die Haut vom Körper reißen zu wollen. Ein Leben ohne Therapie, ohne diese spürbare Not, diesen ständigen Kampf in mir. Es ist schier unvorstellbar, unbegreiflich – so oft mir auch gesagt wird, dass niemand ein Bilderbuchleben führt. Wie oft mir die Lieblingskrankenschwester gesagt hat, dass sich jeder Mensch so fühlen würde, dass ich nicht anders bin – dass auch sie beispielsweise diese Sehnsucht nach einer intakten Familie kennt. Manchmal ist es fast Wut, wenn ich höre, dass es normal ist, sich so zu fühlen – als wäre es fatal wie die anderen zu sein. Als wäre es unglaublich wichtig, dass mein Gefühl nicht passt, zu viel ist, nicht nachvollziehbar. Dann verstehe ich mich nicht. Verstehe nicht, wie ich gleichzeitig erleichtert sein kann, nicht allein mit diesem Gefühl zu sein, tatsächlich okay, und es mich zugleich erstickt, sobald jemand dieses Gefühl nachvollziehen oder nachempfinden kann.

Als ich meine Psychologin heute angerufen habe und ihr sagte, dass es gut tut zu hören, dass sie noch da ist, nachdem ich mir am Wochenende den Kopf darüber zerbrochen habe, wie sie es überhaupt noch mit mir aushalten kann, hat sie mir gesagt, dass sie erwachsen ist und ich darauf vertrauen kann, dass sie bewusst Teil dieser therapeutischen Beziehung ist – dass sie das aushält, mich aushält. Ich weiß nicht, ob es leichter auszuhalten wäre, wenn sie mir gesagt hätte, sie ist nur des Geldes wegen, einfach, weil es ihr Job ist, noch da. Weil ich eben eine Patientin bin, eine Nummer. Kein Name. Keine Geschichte. Kein Mensch. Stattdessen hat sie sich für mich entschieden.

Ein Kommentar zu “Außerhalb der Krankheitsgrenzen

  1. Das Gefühl zu haben, sich die Haut vom Körper reißen zu wollen, das kenn ich auch. Dieses ganz plastische, sich buchstäblich die Haut vom Körper wegreißen wollen, um…, ja ich weiß auch nicht, vielleicht um den Ekel so endlich aus dem Leib zu bekommen…

    Und ich denke nicht, dass es normal ist sich „so“ zu fühlen. Es ist nachvollziehbar und normal, dass du dich, aufgrund deiner Geschichte, so fühlst, aber die meisten Menschen fühlen sich regelmäßig, in dieser Intensität ganz bestimmt nicht „so“, kämpfen innerlich nicht Tag für Tag so verdammt hart. Das wären doch sehr deprimierende Aussichten. Ich hoffe, du weißt, was ich meine. Das heißt wiederum aber auch nicht, dass du grundsätzlich anders als die anderen bist (den Fakt ignorierend, dass wir alle unterschiedlich sind), du fühlst „bloß“ anders, hast sicher andere Bedürfnisse, als die Mehrheit etc. wegen deinen Erfahrungen, aber das macht dich nicht wertlos, noch nicht mal weniger wertvoll. Das spiegeln dir „nur“ deine Eltern… Ich weiß, das ändert nichts am Fühlen, schließlich muss man das auch mal gespiegelt bekommen einen Wert zu haben und das lange genug, um es auch glauben zu können. Ich selbst erinnere mich noch an ein Gespräch mit einer Freundin, noch vor wenigen Monaten, als ich ihr erklärte, mit Argumenten untermauert, felsenfest davon überzeugt, warum ich weniger wert sei als die anderen, eben als jene, die eine Familie haben. Ich fand meine Argumente gut. Ziemlich. Heute sehe ich das anders und die „tollen“ Argumente waren auch bloß Blödsinn, eben lang internalisierte, alte Glaubenssätze, die halt sehr, sehr wirkungsvoll sind. Ja… das waren bloß ein paar Gedankenfetzen, die mir gerade so einfielen.

    Ich hoffe, du hast noch einen halbwegs aushaltbaren Abend, aber wünschen tu ich dir natürlich einen schönen Abend oder einen, der okay ist!

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