Grau statt bunt

Heute tut es mir in der Seele weh, wie meine Eltern reagiert haben, was mit mir geschehen ist und vor allem ist die Frage nach dem „Warum?“ so präsent. Warum ich? Warum bin ich diejenige, die das System, das sich über Jahre, Jahrzehnte in meiner Familie entwickelt hat, verlassen muss, um etwas ändern zu können? Warum lerne ich erst jetzt mit einundzwanzig Jahren tatsächlich das Gefühl kennen, aufgefangen zu werden, wie es ist, wenn sich um meinetwegen gesorgt wird – nicht, weil ich keine Leistung erbringen kann, sondern, weil ich als Mensch wichtig bin? Es sind viele Fragen, die sich an etwas richten, das ich nicht kontrollieren kann. Ich glaube nicht an Gott, manchmal aber an das Schicksal. Und dann gibt es Tage, wie heute, an denen ich mich frage, wie jemand oder etwas erwarten kann, dass ich stark bleibe, nicht einknicke, obwohl die Last auf meinen Schultern unerträglich schwer ist. An denen ich sterben möchte, nicht des Sterbens wegen, sondern um nicht mehr kämpfen zu müssen, erleichtert zu sein und nicht in einer Realität leben zu müssen, in der sich eine Tochter gegen die Eltern entscheiden muss, gegen die Natur.

Ich kann keine Worte finden für den Schmerz in mir, wünschte mir jemanden, an den ich mich anlehnen kann, der sagt „Ich bin da und sorge dafür, dass du auch bleibst“, weil es so schwer ist, das auszuhalten und am Leben zu sein. Weil die Verwundung so gigantisch ist und sich Worte wie „Sie haben sich so gut entwickelt. Sie haben diesen Schritt geschafft“ wie Hohn anfühlen, weil mich nichts auf diesen Schmerz vorbereiten konnte, die diese Entwicklung mit sich gebracht hat. Ich habe das Gefühl in Flammen zu stehen, alles in mir brennt, wütet, lodert – und nirgends ist ein Feuerlöscher oder Wasser oder eine Decke, die die Flammen im Keim erstickt. Es sind Schreie, die so laut sind, dass man sich die Ohren zuhalten müsste, wenn sie tatsächlich zu hören wären.

Manchmal kann ich so tun, als wäre ich in Ordnung. Dann schiebe ich das Gespräch ganz weit weg, verliere mich in mir selbst und halte mich so fest zusammen, dass mich niemand anfassen darf, wie eine aufgezogene Feder, kurz bevor sie sich wieder entfaltet. Dann habe ich noch Eltern, die mich lieben. Einen Vater, der mich beschützt. Eine Mutter, die mich sieht. Und nicht die Version von Eltern, die in der Wut kurzzeitig darüber nachgedacht haben, meine Wohnung zu kündigen, schließlich sei ich doch in der Klinik und bräuchte kein Zuhause. Dann bin ich ganz weit weg, weg von den Menschen in der Wirklichkeit, wie eine Nebenfigur, die mitläuft, aber gar nicht dabei ist. Ich werde grau statt bunt, verschwommen statt klar, verloren statt auffindbar.

 

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