Vor zwei Jahren

Liebe Frau R., 
ich wünsche Ihnen zu allererst ein gesundes, neues Jahr – wenn auch ein bisschen verspätet, aber nicht weniger von Herzen.
Ich musste heute ganz besonders an Sie denken, weil ich genau vor zwei Jahren das erste Mal in der Klinik aufgenommen wurde und habe deswegen wieder den Mut gefunden, Ihnen zu schreiben – ich wollte Sie nicht mit meinem Schmerz belasten, zumal es für mich selbst schmerzhaft ist, die momentane Situation auszuhalten und zu akzeptieren. Es ist so unfassbar, dass das zwei Jahre her ist – damals habe ich noch bei meinen Eltern gewohnt. Es ist in dieser Zeit so viel passiert – und doch fühlt es sich so an, als wäre es genauso, wenn nicht sogar schlimmer als damals. Vielleicht nicht von den Umständen, ich bin zumindest mehr in Sicherheit als damals, habe einige Schritte getan, die Sie oder andere als „mutig“ und „groß“ beschreiben würden, aber in mir drin ist es schwerer und dunkler geworden.
Sie haben mir irgendwann einmal eine Metapher erzählt – dass wir das Pflaster von der Wunde abgemacht haben, die jahrelang ignoriert und betäubt wurde; die eitert und entzündet ist und schmerzt – und um sie zu heilen, muss man sie aufschneiden, in die Tiefe gehen, Schmerz verursachen, damit der Eiter herausließen kann und die Wunde gereinigt ist. Erst dann kann sie verheilen, vernarben, verblassen. Ich frage mich oft, ob es nicht leichter, besser, angenehmer gewesen wäre, das Pflaster auf der Wunde zu lassen. Einfach wegzuschauen, aufzugeben, mich zu ergeben – im System zu bleiben, mitzuspielen und den Schmerz herunterzuschlucken. Manchmal fühlt es sich wie der größte Fehler an, es gesagt zu haben – mir Hilfe gesucht zu haben, ob jetzt in Bezug auf meinen Vater oder damals, weil ich damit überfordert war, immer noch am Leben zu sein. In der letzten Woche hat es sich sehr wie ein Fehler angefühlt.
Jetzt gerade ist mein Herz auch ganz schwer, ich kann kaum atmen und ich bin es leid, mich verändern zu müssen, nicht mehr erstarrt sein zu dürfen. Ich habe versprochen, am Leben zu bleiben – vor allem [jetzige Einzeltherapeutin] und Frau S. gegenüber – und wenn ich ehrlich bin, bin ich so verzweifelt und wütend, dass ich nicht sterben darf. Dass Sie alle (ich schließe Sie jetzt einfach mit ein, okay?) davon überzeugt sind, dass ich am Leben bleiben sollte, dass mein Leben lebenswert ist – dass Sie nicht zulassen, dass ich in dem Sumpf untergehe, dass aus der entzündeten Wunde eine Blutvergiftung wird. Dass ich hier durch muss. 
Aktuell ist der Plan, mich zu stabilisieren – meine Zukunft zu planen (ich tendiere im Moment dazu, eine Ausbildung zu machen, um finanziell unabhängig zu werden; auch wenn ich mich schon entschieden habe (ich wollte fast ein „eigentlich“ dazu schreiben), ist es schwer, das für mich zu akzeptieren – weil es ein Stück weit Versagen ist, ein Stück weit ein weiteres Opfer, um mich von damals zu befreien), mich zu stärken, um mich meinen Eltern gegenüber mehr abgrenzen zu können. Die geplante Traumatherapie wird verschoben – auf eine unbestimmte Zeit nach Abschluss der Therapie bei Frau S.. Auch wenn ich gleichzeitig erleichtert bin, weil es bereits in Mannheim schmerzhaft genug war, weil ich es von dort kenne, wie schlimm es ist, noch einmal das zu durchleben – und wie beschämt ich sein werde, wenn es eine weitere Person weiß (Frau S. kennt keine Details; nicht eine Szene), so sehr lässt es mich verzweifeln, dass sich das so lange hinziehen wird. Dass es kein Ende von Therapie gibt, kein absehbares Ende zumindest – dass ich da noch da sein werde. Ich spüre zwar, dass ich jetzt nicht stabil genug dafür bin; letzte Woche hat meine Bezugspflege zu mir gesagt „Sie können jetzt, wo es Ihnen so schlecht geht, keine Traumatherapie machen“ und ich habe so viel Unglaube gespürt, habe nicht akzeptieren wollen, dass es mir schlecht geht – immer noch. Selbst nach zwei Monaten, fast drei, auf der 3. Gefühlt geht es mir gar nicht gut. Die Suizidgedanken werden wieder schlimmer (vermutlich auch dadurch, dass sich so viel bewegt, dass so viel Zukunftsplanung von mir erwartet wird, dass ich mich mehr trauen soll, mehr tun mer Eigeniniative), die Selbstverletzung ist mehr geworden, die Gefühle kaum aushaltbar. Ich habe mich so verloren und einsam gefühlt, so allein mit der Kleinen, allein mit der Angst, der Verzweiflung, weil ich das Gefühl habe, dass das im Moment keine Rolle spielt, dass es falsch ist, daran festzuhalten. Die meisten von der Pflege, vom Team haben „nur“ die Hausaufgaben interessiert – wie ich die Aufgaben erledigt habe, und ich habe mir gewünscht, jemand würde den Moment sehen – den tiefen Schmerz, die Tränen, wie unglaublich falsch sich das für mich anfühlt und mit mir innehalten. Mich festhalten, während ich weine, weil das hier allem widerspricht, was in mir ist, was sterben möchte. Ich fühle mich zerrissen, verloren, vermisse vor allem eine Mama (und merke immer wieder, wie ausweglos dieser Wunsch ist, dass keine Umarmung der Welt dieses Loch füllen kann), wünsche mir, dass doch jemand kommt und mich rettet. Damals. Dass ich mir wünsche, dass damals nicht geschehen ist, ich es hätte verhindern können, um jetzt nicht in dieser Realität sein zu müssen, die grausam und schmerzhaft ist. 
Ich bin müde. Ich erkenne oft Parallelen zu damals – auf der Station ist es Pflicht, Tagebuch zu schreiben und die Einträge ähneln sehr denen, die ich Ihnen damals geschrieben habe. Mit Kummer [Kuscheltier aus dem Film „Alles steht Kopf“] neben mir im Bett denke ich oft an Sie und kann manchmal gar nicht glauben, dass es einerseits so lang her und andererseits tatsächlich geschehen ist. Es fühlt sich so an, als sei es erst gestern gewesen – als hätte ich da das erste Mal in der Oberarztvisite gesessen und Sie kennengelernt – und dann sind da die Beweise, dass es nicht so ist. Dass dazwischen Zeit zuhause liegt. Kriseninterventionen auf der Geschlossenen. Versuche, zu studieren. Mannheim. Dann der Zusammenbruch im Oktober. Ich kann das nicht fassen – und spüre, wie schwer es im Moment ist, das alles zu sortieren, zu realisieren – dass ich irgendwo stehen geblieben bin, wie in Eis erstarrt. Ich kann nicht fassen, dass ich immer noch da bin, obwohl ich schon so viel früher hätte sterben sollen  und hatte sterben wollen. Aber ich bin immer noch da. Mein Herz schlägt noch. In drei Wochen werde ich 21. Damals bin ich 19 geworden. Zeit ist seltsam. Ich bin kräftemäßig sehr am Ende – ich klammere mich sehr an die Essstörung, seit Mannheim habe ich gut sieben bis acht Kilo abgenommen, noch ein Grund, warum ich jetzt definitiv nicht genug Kraft für Exposition hätte. Es reicht gerade so, im Klinikalltag zu überleben, um es jetzt zur Belastungsbeurlaubung nicht mehr zu tun, als auf der Couch zu liegen und zu atmen, während die Gedanken kreisen und ich am liebsten gar nicht zurück in die Klinik möchte – weg von den Menschen, die mich beobachten, bewerten. Weg vom neuen Weg, vom „So kann es nicht mehr bleiben“, das da die ganze Zeit mitschwingt, vor allem dann, wenn mir zurückgemeldet wird, wie verquer ich aufgewachsen bin, dass mein Vater eine Straftat begangen hat, Grenzen überschritten hat. Dass ich keine Schuld tragen soll. Es ist schmerzhaft dort zu sein – und ich fühle mich, als wären sämtliche Nervenenden freigelegt wurden, als sei ich eine einzige Angriffsfläche und ein einziger Schmerz. Ich wünschte, ich könnte hier in der Wohnung bleiben, einfach verschwinden, im Strudel aus Selbstverletzung, Verzweiflung, Ohnmacht, Erbrechen, Hungern, Sterben. Das hat sich zumindest richtig angefühlt. 
Ich drücke Sie ganz fest. Vielleicht schaffen wir es, uns bald wieder zu sehen? 
Halten Sie mich bitte weiterhin fest – halten Sie einen Moment mit mir inne und betrauern mit mir, wie schwer es gerade ist? Können Sie ein bisschen da sein? Für die Kleine? Und die Große, die genauso wenig Kraft hat? (Ziemlich viel, was ich Ihnen da zumute, entschuldigen Sie.) 
Danke, dass Sie mich bis hierher begleitet haben. Dass Sie immer noch da sind. Ich verstehe nicht, warum Sie noch da sind – und wie das aushalten konnten, aber ich bin sehr dankbar, irgendwo, ganz tief in mir drin, neben all der Verzweiflung, der Wut, der Ohnmacht, dass ich deswegen nicht gehen kann. 
Alles Liebe, 
Elisa.

Ein Kommentar zu “Vor zwei Jahren

  1. Liebe Elisa, ich kann so sehr verstehen, dass Du Dir eine Mutter wünschst, die für Dich da ist, Dir damals eine Mutter gewünscht hättest, die das verhindert. Dieser große Schmerz ist so nachvollziehbar. Vielleicht kannst Du die Menschen um Dich herum in der Klinik ein wenig als „Ersatzmütter“ sehen. Ich weiß, sie lassen nicht so viel Nähe zu, um Dich auch nicht von sich abhängig zu machen. Aber, wenn ich sehe, was sie für Dich planen, dann scheint ihnen sehr, sehr viel daran zu liegen, Dich zu stabilisieren und Dich aus der Gefahrenzone Deiner Familie zu bringen. Wenn Du Dich gar nicht imstande fühlst, eine Ausbildung zu machen, kannst Du es ihnen vielleicht noch einmal sagen und Ihr könnt gemeinsam überlegen, ob es noch andere Wege gibt, Dich noch zu finanzieren, damit Du nicht von Deinem Vater abhängig bist. Solltest Du jedoch eine Ausbildung machen, die Du intellektuell gut bewältigen kannst und Du bist eine sehr intelligente junge Frau, dann könnte es sein, dass Dir dies gar nicht so schwer fällt. Du hättest doch auch locker studieren können, wenn Du nicht diese traurige Vergangenheit hättest. Die Idee mit der Ausbildung, sofern Du dazu imstande bist, finde ich sehr gut, denn Du würdest nicht mehr auf Deine Eltern angewiesen sein. Und ich bin mir ganz sicher, dass eventuell nach einer Ausbildung und wenn Dein Leben eine positive Veränderung erfährt, Du auch noch ein Studium machen kannst, wenn Du willst. In der Klinik sehen sie das in Dir, was auch ich sehe, wenn ich bei Dir lese. Du hast so viel Potenzial. Du musst nur wieder zu Kräften kommen. Lass‘ Dich ganz fest umarmen.

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