Nicht überwunden


„Nach dem letzten Familiengespräch, was absolut schrecklich war, hatten meine Eltern die fabelhafte Idee, meine Therapie abzubrechen, weil ich ja mittlerweile wieder esse und gemästet bin. Es war das erste Mal, dass ich während des Familiengesprächs etwas gesagt habe, dass ich mich eingemischt habe, obwohl meine Eltern so getan haben als wäre ich gar nicht im Raum, als wäre es zu gefährlich, wenn sie das Wort direkt an mich richten als an meine Psychologin. Ich habe versucht, Ihnen zu erklären, warum es zu der Essstörung gekommen ist, dass ich mich zu eingeschränkt fühle, dass ich keinen Freiraum habe, um mich zu entwickeln, um erwachsen zu werden und eigene Entscheidungen zu treffen. Die Reaktion meiner Eltern war heftig. „Spüren Sie die Not Ihrer Tochter?“, fragte Frau S., warf mir einen kurzen mitleidigen Blick zu und wandte sich dann wieder an meine Eltern, die verständnisloser nicht hätten sein können. „Welche Not?“ Tausend Messerstiche in mein Herz. Tief durchatmen. Es nicht an mich heranlassen. Als dieses Gespräch vorbei war, war ich nicht ich selbst; habe nicht gemerkt, wie ich Richtung Toilette gegangen bin, bis die Stimme von meiner Psychologin mich zurückgehalten hat. „Nicht kotzen gehen, E.“ Ich habe geblinzelt. „Nicht kotzen gehen, E.“ Tränen schießen mir in die Augen, ich reiße die Hände vor mein Gesicht, werfe ihr einen verzweifelten, kaputten Blick zu und renne in mein Zimmer. Die Hoffnung, dass sie mir folgt, war groß, aber ich wusste, dass sie es nicht tun würde. Ich weine ungefähr fünf Minuten, atme hektisch und abgehackt, wische mir mit dem Ärmel über die Augen, weil ich gerade kein Taschentuch finde und gehe wieder aus meinen Zimmer. Ich gehe in die Küche, mache meinen Dienst und versuche das Gespräch zu vergessen, versuche zu vergessen, dass ich vollkommen allein bin und meine Eltern einfach überhaupt nichts verstehen und nur auf sich fixiert bin. Am restlichen Tag war ich zu nichts zu gebrauchen, bin immer wieder in Tränen ausgebrochen, habe mit Frau S. kurz gesprochen, habe mich beim abendlichen Telefonat mit meiner Mutter gestritten. Das folgende Wochenende verlief nicht besser. Mein Vater war davon überzeugt, dass ein Gespräch unausweichlich war und so schwer es mir auch fiel, zu reden, mich zu öffnen, so habe ich es doch geschafft, meine Eltern zu überzeugen, dass die Therapie das Richtige für mich ist. Es war eine Hürde, die ich überwinden konnte, so groß und hoch sie auch war.“


Dieser Auszug von einem Beitrag meines alten Blogs beschreibt ein Ereignis aus meiner stationären Therapie, das nun ein Jahr zurückliegt. Vielleicht ist es das Einschneidendste, denn damals habe ich begriffen, dass ich innerhalb meiner Familie wirklich allein bin. Vor einem Jahr wollten meine Eltern meine Therapie abbrechen, weil sie sich zu sehr angegriffen gefühlt haben. Es ging an ihre Substanz – und weil sie selbst nicht mit den Erkenntnissen und meinen Worten umgehen konnten, schien es für sie der beste Weg zu sein, meine Therapie abbrechen. Aus Selbstschutz.

An diesem Tag – oder besser in dieser Zeitspanne – habe ich wirklich begriffen, dass meine Eltern tatsächlich zu sehr auf sich konzentriert sind, als dass sie sich in mich hineinversetzen können. Ich unterstelle ihnen nicht, dass sie mich nicht lieben, keineswegs, aber ich erinnere mich noch zu gut an all die Tränen, all den Schmerz, den ich damals gespürt habe, als mir meine Eltern mein Refugium so plötzlich unter den Füßen wegreißen wollten.

In den letzten Wochen habe ich es gut geschafft, mich von den Ereignissen von vor einem Jahr zu distanzieren, von meiner Zeit in der Klinik. Die Sehnsucht nach dem Schutz und der Möglichkeit, dort ich zu sein, habe ich verdrängt, kaum noch wahrgenommen, denn nachdem meine Psychologin eine eigene Praxis eröffnet hat, fiel auch für mich ein wichtiger Anreiz, wieder in die Klinik zu gehen, weg. Gerade in diesem Moment ist diese alte Wunde offen, ich erinnere mich, wie ich mit tränenüberströmten Gesicht im Ausgang die Nachricht meiner Schwägerin gelesen habe, dass meine Eltern sich für einen Abbruch der Therapie entschieden haben, erinnere mich daran, wie mir meine Psychologin erklärte, dass ich zum Jugendamt gehen muss oder es Unterkünfte für Jugendliche in Not gebe, in die ich gehen könnte. Spüre die Tränen von damals auf meiner Haut, spüre die Angst, die Traurigkeit und den absoluten Schock.

Je öfter ich mich durch die Nachrichten, die ich damals voller Verzweiflung an Frau K. geschrieben habe, scrolle, desto wortloser werde. Desto schwerer fällt es mir die Fassung zu bewahren, denn der Schock von damals ist nicht vergessen und ich merke, dass ich es nicht überwunden habe, von meinen Eltern in diesem Moment enttäuscht wurden zu sein. Die Antworten, die Anteilnahme von Frau K. damals, hilft ein wenig („Vielleicht musst du sie fragen, ob sie dich verlieren möchten oder ein gesundes Kind wollen?“), aber sie schüren ebenso den Wunsch, dass es hätte anders laufen können. Den Wunsch, ich würde wirklich irgendwie zu Frau K. gehören.

Heute ist ein reichlich seltsamer Tag und ich bin bereits jetzt, obwohl gerade erst Mittag ist, einfach nur müde und erschöpft.

3 Kommentare zu „Nicht überwunden

  1. Ich denke, es ist nicht selten, dass Eltern von Kindern, die in Therapie sind, so reagieren. Und spätestens dann weiß man ziemlich genau, warum das Kind in Therapie ist. Man hat zuhause zu funktionieren, Gefühle werden unterdrückt und seelische Not nicht gesehen. Liebe E., sag‘ Dir zum Trost, dass Du schon viel weiter als Deine Eltern bist. Du wirst, wenn Du Deine Krankheit überwunden hast, vermutlich ein viel freieres Leben leben als sie.

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  2. Oh, je! das macht schon ganz schön traurig, wenn man hört, dass Kinder und Eltern so „gegeneinander“ laufen. Aber es ist doch richtig, dass du mit ihnen geredet hast.
    Ich kann gar nicht verstehen, warum deine Eltern so gegen eine Therapie waren/ sind.
    Kenn dich halt nicht…
    Wenn ich mir überlege, du bist ja schon 17 und nicht mehr so klein.
    Es dauert dann doch nicht mal mehr ein Jahr dann bist du volljährig, und musst vieles selbständig tun können. Das kann man aber nur, wenn einen die Eltern unterstüzen.
    Aber ich kann mir auch nicht wirklich ein Urteil erlauben.
    Ich kenne dich ja nicht, wünsche dir aber alles Gute Und hoffe, dass es dir rasch besser geht!
    Die Stimmung gestern war ja nicht so toll…

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    1. Ich danke dir für deine lieben Worte und deine Anteilnahme, obwohl du mich nicht kennst. Und ich danke dir, dass du dir kein vorschnelles Urteil erlaubst. Ja, derzeit ist die Stimmung nicht so toll, aber bisher hat das auch ein Ende gefunden 😉
      Danke dir – und dir auch alles Gute!

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