Systemsprenger

Es ist eine jener Zeiten, in denen es sich anfühlt, als gäbe es nicht genügend Worte, um ansatzweise einfangen zu können, was gerade passiert oder wie es mir geht. Ich habe oft vor dem Bildschirm gesessen, Sätze angefangen und dann wieder aufgehört, weil ich nicht wusste, wie ich anfangen sollte. Wie soll meine Welt in so wenig Worte passen? Es fühlt sich nicht danach an, als könnte ich meinen Schmerz, meine Not gut mitteilen – als würde es nicht ausreichen zu schreiben oder zu sprechen, weil der Schmerz so viel tiefer sitzt und sich so viel schlimmer anfühlt. Es ist eine dieser Momente, in denen es nicht einmal ausreichen würde, mich an jeder erdenklichen Stelle meines Körpers zu verletzen oder so dünn zu sein, dass mich meine Beine nicht mehr tragen könnten. Ich wünschte, ich könnte schreien – doch stattdessen bin ich wie erstarrt und bekomme keinen Ton über meine Lippen. Gleichzeitig ist es mir schrecklich unangenehm, dass meine Worte so dramatisch klingen und ich so in Not bin.

Seit knapp fünf Wochen bin ich in der Klinik. Es ist eine andere Station, ein anderes Konzept und bringt mich sehr an meine Grenzen, da hier viel auf Gruppentherapie ausgelegt ist. In den Gesprächsrunden sitze ich zusammengekauert auf dem Stuhl, schlinge die Arme um meine Beine und wünschte, ich könnte anders sein. Ich bin neidisch auf die Menschen, die da reden können – und es fühlt sich an, als würde etwas in mir jedes Mal ein Stück mehr kaputtgehen, weil ich genau das nicht kann. Ich erwische mich dabei, mir zu wünschen, ich wäre anders, ich könnte einfach reden, vor allem über den Missbrauch – und wie groß das in meinem Kopf ist. Dass ich diese Erfahrungen in jede Begegnung nehme, dass da in mir dieses kleine, kaputte Mädchen ist, das die Welt nicht mehr versteht, das ihren Vater verloren hat. Ich wünschte, ich könnte es meinen MitpatientInnen erzählen – um es nicht allein tragen zu müssen, aber auch um mich zu erklären. Damit sie verstehen, warum ich manchmal so erstarrt und stumm und beziehungsunfähig bin.

Ich fühle mich einmal mehr wie ein Systemsprenger, denn meine Therapeutin hier hat mehrmals die Überlegung geäußert, ob es hier das richtige ist – allerdings ohne eine Alternative zu haben, weil sie mich ungern in die nächste Klinik schicken möchte, um von dort aus wieder in die nächste Klinik zu gehen. „Vielleicht war das, was Ihnen passiert ist, zu schlimm“, hat sie einmal gesagt – und mir somit das erste Mal, seit ich mich erinnern kann, eingeräumt, dass ich nicht heil sein muss. Dass ich kaputt sein darf, wegen all der Dinge, die mein Vater getan hat. Es gibt einen Teil in mir, der genau das hatte hören wollen – und der auch jetzt sagt, dass ich lang genug versucht habe, anders zu sein. Ich habe versucht zu studieren. Ich habe versucht, mir ein Leben aufzubauen. Da war nie der Raum, um kaputt zu sein – um den Schock zu spüren. Die Welt hat nie angehalten, obwohl ich das so dringend gebraucht hätte – und noch immer brauche. Und vielleicht ist jetzt nicht der Zeitpunkt, um anders zu werden, um mein Potenzial auszuschöpfen (das so viele Menschen in mir sehen, wie meine alte Therapeutin und es bricht mir ein bisschen das Herz, dass ich gerade alles andere als stark und mehr als der Missbrauch bin – gerade raubt es mir den Atem, welche Tragweite das Damals hat und dass es sich anfühlt, als könnte ich nie wieder wirklich okay sein) – und diese Erkenntnis schmerzt, weil ich einen ganz anderen Anspruch habe, ohne zu wissen, ob es wirklich meiner ist, oder das, was ich glaube, was von mir erwartet wird.

Eine Perspektive ist eine betreute Wohnform – eine Wohngruppe, in der ich versorgt werde, in der es Struktur gibt. Auch, weil ich dazu neige, mich in Kliniken und stationäre Behandlungen zu flüchten, wenn sich der Alltag zu viel anfühlt. Wahrscheinlich bin ich längst hospitalisiert – eine weitere Erkenntnis, die wehtut. Es ist so furchtbar schwer, zu realisieren, dass das hier wirklich mein Leben ist – dass all die Worte, die ich gerade schreibe, mit mir zu tun haben und nicht mit einer anderen Person. Es ist mein Leben, welches ich, so fühlt es sich an, gegen die Wand gefahren habe.

Dann raubt es mir den Atem, wenn ich versuche zu begreifen, was ich erlebt und überlebt habe. Und dass es nicht normal ist, sich selbstzuverletzen, sich absichtlich zu übergeben oder so viel diffuse Angst zu haben, wie ich sie hier im Klinikalltag erlebe. Ich kann nicht einmal sagen, woher ich wirklich Angst habe – es ist das Gefühl, ständig in Gefahr zu sein, nie sicher sein zu können und niemanden trauen zu können, auch wenn ich es so gern würde. So gern würde ich das Schweigen brechen, über damals reden – oder vielleicht beim Jetzt anfangen. Doch ich weiß nicht wie.

Ich weiß nicht, wie ich es schaffen soll, mich zu öffnen – sei es in der Einzeltherapie oder in der Gruppe. Ich fühle mich, als wäre ich kaputter als die anderen, als wäre meine Geschichte zu schwer und habe oft das Gefühl, längst nicht mehr so mitschwingen zu können. Ich kann über manche Witze nicht lachen oder mich eine Stunde lang über Schlaf und Schlafhygiene unterhalten, wenn da in mir diese Not ist und ich das Gefühl habe, an mir selbst zu ersticken. Sobald sich Gespräche um Partnerschaft drehen oder jemand einen anzüglichen Witz macht, möchte ich verschwinden, erstarre einmal mehr und schäme mich dafür. Ich fühle mich nicht sicher genug, um meine Deckung zu verlassen – stattdessen verharre ich in der Ängstlichkeit. Zeige mich klein, verstecke mich hinter zitternden Beinen und aufgerissenen Augen und halte so die Menschen auf Abstand. Auch jene, die mir helfen wollen und könnten.

„Sie scheinen es zu brauchen, sich desolat zu zeigen. Sie wie Sie es jetzt tun, in dem Sie Ihr Zittern so deutlich machen. Das möchte ich Ihnen nicht wegnehmen„, waren die Worte des Chefarztes in der gestrigen Visite. Ich scheine das Kranksein zu brauchen – schwach zu sein. Zumindest hier im Klinikalltag – und auch immer wieder in vergangenen Therapien. Immer wieder gab es den Punkt, das ich in den Widerstand ging, sobald sich etwas Veränderung sollte. Was sagt das über mich aus? Was macht es für einen Menschen aus mir, wenn da etwas ist, was sich daran festhält, so kaputt zu sein – sich für die Karriere einer chronisch psychisch Kranken zu entscheiden, wie es der Chefarzt später krasser ausgedrückt hat? Es fühlt sich ein wenig wie Aufgeben an – und gleichzeitig merke ich, dass mir die Kraft fehlt, um anders zu handeln. Um mit anderer Körperhaltung in der Gruppe zu sitzen. Um laute Worte zu haben. Um mehr zu sein als dieses kaputte, missbrauchte Mädchen, ganz gleich, wie viel andere Elisa noch da ist. Gerade bin ich einfach nur sehr, sehr müde. Vom Kämpfen. Vom Anderssein. Und von mir selbst.

9 Kommentare zu „Systemsprenger

  1. Puh. Ganz ehrlich? Ich finde es sehr, sehr heftig, was der Chefarzt da gesagt hat. “Sich für die Karriere einer psychisch Kranken zu entscheiden”… puuuh.
    Ich finde, es ist das eine, wenn er anerkennt oder sagt, dass du ein “Es ist nicht ok.”-Zeigen-Können gerade brauchst… (wobei auch das je nach Tonfall schon sehr an der Grenze sein kann!). Aber die andere Aussage… uff…

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      1. Lese gerade Elisas Worte, ja scheint das ich es anders verstanden hatte- dachte halt er hat das nicht Wortwörtlich gesagt, aber scheinbar ist er doch sehr abgeklärt…
        …manchmal sollten Ärzte auch mal einen Schritt beiseite tretten und wieder richtig hinschauen mit Gefühl…
        Gut das du drauf geschrieben hast, so konnte ich den rest noch lesen😊 🐘

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    1. Tatsächlich ist der Chefarzt mit solchen Worten noch ziemlich nett zu mir – gab andere Situationen mit Mitpatientinnen, in denen er wirklich richtig fiese Dinge gesagt hat. Er ist definitiv ein Mensch, mit dem ich so nie zu tun haben wollen würde. Danke für deine Anteilnahme!

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      1. Autsch. Ja guuut… Aber: Dass er bei anderen Mitpatientinnen “fieser” ist, macht seine Aussagen nicht besser, ja?

        Ich wünsche dir sehr, dass du etwas findest, das hilft und dir ein bisschen Sicherheitsgefühl gibt… Hypervigilanz (also.. diese diffuse Angst, nehm ich an) ist ätzend :/

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  2. Erstmal, DU hast Dein Leben sicher nicht an die Wand gefahren, diejenigen die Dir diese Dinge angetan haben haben Dein Leben verändert und sind daran Schuld das es so ist wie es ist! Du hast da keine Schuld dran das diese Dinge Dich krank gemacht haben!

    Eine Klinik sollte eine Ort sein wo mein sein darf wie man ist und wo man das zeigen darf wie es in einem aussieht. Je nach Komplexität sind Gruppensettings manchmal einfach nicht hilfreich, das sollten die Therapeuten in einer Klinik aber auch wissen! Um sich auch nur annähernd öffnen zu können benötigt es Sicherheit und einen entsprechenden Rahmen und vor allem auch vertrauen in die Gegenüber. Wir finden es nicht ok was der Chefarzt da von sich gegeben hat. Als wenn sich jemand aussuchen würde seelisch krank zu sein, da gibts keinen Mehrwert wenn die Seele erkrankt ist, warum auch immer. Niemand sucht sich das aus. Anstatt zu sehen wie es Dir geht machen sie Dir noch zusäztlich ein schlechtes Gefühl.

    Der Chefarzt sollte lieber hinschauen warum und wieso Du da sitzt wie Du sitzt und warum Du zitterst, genauer hinschauen und Dir empathisch begegnen und sich solche nicht hilfreichen Dinge nicht sagen. Vor allem in der Visitie, wo er die Patienten sonst gar nicht erlebt. Wir sind erschüttert das es vielen anderen auch so ergeht und das sich anscheinend in einigen Kliniken nichts ändert.

    Ein Klinikaufenthalt soll helfen und nicht noch mehr kaputtmachen! Puh, tut uns von Herzen leid das es dort anscheinend nicht gut läuft. Wir schicken Euch sofern das überhaupt geht viel Kraft und nein DU bist NICHT schuld!

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