Desillusion

„Wir freuen uns auf Sie“, hat die Frau zum Abschied am Telefon gesagt, nachdem sie mir den ersten Termin für die intensive Betreuung durchgegeben hat. Morgen früh werden mich eine Ärztin und eine Krankenschwester besuchen, um dann mit mir das weitere Prozedere zu besprechen. PIA intensiv. Seit ich mir vorhin auf der Internetseite die Beschreibung dieser Hilfe durchgelesen habe (unter anderem, dass sie Patientinnen betrifft, die schwer und akut erkrankt sind), ist da ganz viel Zweifel. Weil ich doch niemals so krank sein kann, um so umfassende Hilfe zu brauchen. (Dass meine alte Therapeutin einmal betreutes Wohnen in den Raum gestellt hat, weil zwischenzeitlich zwei Einzelgespräche in der Woche nicht ausgereicht haben, um die Not abzufangen, scheint da keine Rolle zu spielen.)

Schließlich funktioniere ich doch. Auch wenn ich das Studium gerade pausiert habe (und es sehr wahrscheinlich auch nicht wieder aufnehmen werde, weil es sich anfühlt, als würde ich da etwas versuchen, was gerade eigentlich gar nicht möglich ist (und ich weiß nicht, ob mein Gefühl da richtig ist oder ob es übertrieben ist, weil es sich gleichzeitig so anfühlt, als könnte ich nie etwas fertigbringen, etwas leisten, gesund sein – als wäre ich als Mensch kaputt und nicht zu gebrauchen)). Ich liege nicht nur im Bett und kann nicht aufstehen. Ich kümmere mich um die Katzen, habe heute die Wohnung aufgeräumt, damit ich morgen einen guten Eindruck hinterlassen kann.

Gut, Selbstverletzung spielt fast täglich eine Rolle. Okay, ich fühle mich verloren und hoffnungslos – und habe furchtbar viel Angst, dass mein Leben immer aus diesem Überlebenskampf bestehen wird. Ich habe das Gefühl, mich niemanden anvertrauen zu können – die Schwere nicht teilen zu können. Dass ich mich zuhause nicht wohlfühle und vor dem Schritt stehe, meiner Mitbewohnerin und Lieblingsfreundin zu sagen, dass ich ausziehen und wieder eine eigene Wohnung nur für mich haben möchte, sorgt zusätzlich dafür, dass ich mich schrecklich fühle und glaube, dass ich einer der schrecklichsten Menschen auf der Welt bin. Auch jetzt sitze ich in meinem Zimmer und hoffe, dass die Lieblingsfreundin für sich bleibt – und fühle mich schlecht, weil sie mir vorhin gesagt hat, dass es ihr nicht gut geht, und ich statt ihr zu helfen, kaum Luft bekomme und nur noch mehr verschwinden möchte.

Es geht mir nicht gut – aber das ist schon lange so. Und ein Stück weit ist da dieses Stück bittere Realität, dass sich so schnell an diesem Zustand nichts ändern wird. Als ich vor einigen Wochen wieder stationär war und mich der Oberarzt fragte, ob ich nach der letzten Entlassung gedacht habe, dass jetzt alles besser wird, habe ich ihm erklärt, dass ich diese Erwartung längst nicht mehr habe. Ich bin dann nicht voller Tatendrang und glaube, ab jetzt wird alles anders. „Sie sind also desillusioniert?“, hat er mich dann gefragt – und ich habe einfach nur genickt.

Desillusioniert (jemanden) eine Illusion nehmen, heißt es im Internet. Desillusion bezeichnet eine Enttäuschung oder eine als negativ empfundene Erfahrung, die zu Resignation führen kann, mit diesem Satz beginnt der passende Artikel auf Wikipedia. Als ich damals das erste Mal in der Klinik war, habe ich tatsächlich geglaubt, es würde besser werden. In einem Tagebuch aus der Zeit habe ich geschrieben, ich würde mich nie wieder selbstverletzen, wieder normal essen, mein Leben in die Hand nehmen (soweit das für ein sechzehnjähriges Mädchen möglich ist, das noch Missbrauch erlebte, das zuhause nicht sicher war und das erste Mal Sicherheit in einer Klinik erlebte). Als ich vor zwei Wochen entlassen wurde, nachdem ich mich mit der Psychologin dort dafür entschied, weil es eine Zumutung war, dort zu sein, wo damals der Suizid passierte und außerdem ein Patient extreme Täterähnlichkeit hatte, war da nicht dieses Gefühl, alles verändern zu können. Stattdessen ist da diese Resignation – dieses Gefühl von „So wird es immer sein“, nicht aus den Symptomen, dem Missbrauch ausbrechen zu können, weil er viel zu tief in mir ist – weil er mich kaputt gemacht hat und ich nicht mehr heilen kann.

(Und ich frage mich immer wieder, warum all die Helfermenschen, meine Kinder- und Jugendpsychologin, etliche Klinikpsychologen, die Lieblingskrankenschwester so fest davon überzeugt sind, dass ausgerechnet ich es schaffen kann. Dass ich ausbrechen kann. Leben. Dass sie fest daran glauben, dass ich selbst eine Familie gründen, die Welt besser machen kann – vielleicht nicht für jeden, aber für mich und ausgewählte Menschen. In solchen Phasen wie jetzt, wo es sich so unmöglich anfühlt – weil, wie soll ich Mutter werden, wenn ich nicht einmal Nähe zulassen kann, geschweige denn Kontakt zu Männern habe? – würde ich gern jedem einzelnen dieser Menschen danach fragen. Nach Anhaltspunkten. Was habe ich an mir?)

Ich habe Angst vor morgen. (Und gleichzeitig auch ein ganz kleines bisschen Hoffnung, in dieser schweren Zeit etwas mehr getragen werden zu können. Auch wenn es bedeutet, dass ich tatsächlich schwer und akut erkrankt bin.)

Ein Kommentar zu “Desillusion

  1. Liebe Elisa!
    Auch ich glaub ganz fest daran, dass du es schaffen kannst – ganz einfach, weil du nie aufgegeben hast, sondern immer weitergekämpft hast und unendlich tapfer deine Situation schon verbessert hast – du hast dich in Sicherheit gebracht, du hast immer wieder Hilfe angenommen…das ist soooo ne große Leistung, dass ich einfach weiß, dass du das kannst.
    Ich wünsch dir ganz viel Kraft für die nächsten Wochen und glaube weiterhin fest an dich!

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