Es braucht Zeit

„Es braucht Zeit“, sind die Worte der Therapeutin aus der Klinik. Die Akzeptanz, dass der Heilungsprozess dauert, dass es sehr wahrscheinlich nicht der letzte stationäre Aufenthalt ist und erst recht nicht die letzte Krise, schwankt. In manchen Stunden fühlt es sich okay an, dass ich in fünf Tagen entlassen werde und weiß, dass längst nicht alles gut ist. Wie unrealistisch es ist, von mir zu erwarten, dass ich ab jetzt genesen bin – dass ich nicht mehr mit essgestörtem Verhalten, Selbstverletzung, Suizidalität reagiere, sobald es schwer wird. Dass ich mich nicht mehr nur als das traumatisierte elfjährige, zwölfjährige Mädchen sehe – sondern als so viel mehr, wenn ich meiner Therapeutin Glauben schenken darf. Stattdessen habe ich Angst. Ich habe Angst – und ein bisschen die Gewissheit -, dass ich die Selbstverletzung nicht losgelassen habe. Dass ich zuhause nicht geregelt essen werde. Dass mir der Abschied von meiner ambulanten Therapeutin den Boden unter den Füßen wegreißen wird, weil es nicht nur das Loslassen einer unfassbar wichtigen Bezugsperson, sondern auch von meiner Heimatstadt ist. Von diesem Abschnitt des Überlebens, in diesem System. „Es ist ein wichtiger Abschied für dich, weil es dich von dieser Kinderrolle löst“, hat meine ambulante Psychologin Ende letzten Jahres gesagt – und auch jetzt ist da dieser trotzige Anteil, der aufstampfen möchte – weil ich mich doch gar nicht lösen möchte. Ich möchte nicht für mich selbst sorgen müssen. Ich möchte diese Person nicht loslassen müssen, sondern behalten dürfen. Jemand, der mich über mehrere Etappen begleitet. Eine Hand, an der ich mich immer festhalten kann – von der ich weiß, sie ist bedingungslos da. Dann fühle ich mich ganz klein, weiß nicht, wie ich auf eigenen Beinen stehen soll – suche nach einer Antwort auf das „Warum ich? Warum darf ich keine Mama haben?“.

„Die Tränen haben Sie schon so oft geweint. Die müssen doch ganz alt schmecken.“ Zwei Stunden vorher hat mir die leitende Psychologin auf Station gesagt, dass keine Mutter kommen wird. Dass es auch nicht meine Bezugstherapeutin sein kann. Dass die Fürsorge von außen nur kurzfristig hilft. Dass nur ich das Loch füllen – heilen kann. Ich werde ganz starr. So oft habe ich das gehört. Wie anstrengend diese Suche ist – und das immer wieder merken, dass diese Personen mir die Kindheit nicht geben können, die ich mir so ersehne, so erhoffe, vielleicht auch um nicht wahrhaben zu müssen, dass meine Kindheit und Jugend so anders war. So schmerzhaft und missbrauchend. Dass das kleine Kind existiert, das der Mutter nie genug war. Dass die Elfjährige existiert, die nicht versteht, wie aus dem Vater, der sie so oft und so lang beschützt hat, ein Täter werden konnte. Jemand, der so gewaltig Grenzen überschritt. „Ich reiche nicht aus“, presse ich hervor. Ich reiche nicht aus, um für diese kaputten Seelen in mir da zu sein. Um sie heilen zu können. Ich bin nicht genug. „Es braucht Zeit.“ Wieder dieser Satz. Bis es sich ausreichender anfühlen wird. Und wie halte ich durch, bis dieser Zeitpunkt kommen wird? Wie halte ich den Schmerz aus, diese bodenlosen Gefühle, diese Sehnsucht? Wie bleibe ich am Leben? Und dann fühlt es sich nicht mehr okay an, dass es ein langer Heilungsprozess ist – dass ich vielleicht immer noch am Anfang bin, obwohl ich mir so oft gewünscht habe, es wäre endlich vorbei. Dann weiß ich nicht, wie ich auch nur den nächsten Tag überstehen soll, geschweige denn die Entlassung, den Abschied von meiner langjährigen Psychologin und das Fußfassen in der neuen Stadt.

Am kommenden Donnerstag holt mich eine meiner ambulanten Betreuerinnen ab. Fährt mit mir einkaufen, verbringt noch etwas Zeit mit mir in der Wohnung. Meine Katzen kommen erst einige Tage später wieder, weil die Lieblingsfreundin positiv auf Corona getestet wurde und in Quarantäne ist. Ich habe einen Notfallplan in der Tasche – „Frau B., ich zweifle daran, dass Sie eine der Nummern anrufen werden.“ – weiß, dass die Tür hier auf Station nicht geschlossen ist und dass es irgendwie weitergehen wird, weil Sterben keine Lösung ist. Dass ich es überleben werde, meine ambulante Psychologin ein letztes Mal zu sehen, ihre Stimme ein letztes Mal zu hören. Es fühlt sich nicht erleichternd an, das zu wissen.

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