Mannheim • Tag LVII

“ […] Be my friend
Hold me, wrap me up
Enfold me, I am small
And needy, warm me up
And breathe me
[…]

Breathe Me • Sia

Als ich elf Jahre alt war, hat mich mein Vater sexuell missbraucht. Er hat dabei Intimitätsgrenzen überschritten und in mir das Gefühl extremer Überforderung und Verstörtheit ausgelöst. An dem Tag habe ich meinen Vater und Vertrauen verloren„, schreibe ich, sage ich, lese ich. Ich fühle mich taub, leer, nicht so, als wäre ich dieses elfjährige Mädchen gewesen, das nichtsahnend im Wohnzimmer saß und niemals daran dachte, dass ihr Vater solche Dinge tat. Das bin nicht ich, möchte ich sagen, schreien, das darf nicht sein. Ich möchte die Augen schließen, wie damals, wenn man sich etwas ganz doll wünscht, und in einer Welt aufwachen, in der das nicht passiert ist. In der mein Vater noch mein Vater ist, ein Vater, der mich zum Altar bringen kann. Ein Vater, der meine Kinder hätte aufwachsen sehen können. Mit einer Elisa, die nicht kaputt ist, die sich nicht wünscht, zu verschwinden und gleichzeitig mit jeder Faser gesehen werden möchte – in dem Schmerz, in der Trauer. Mit einer Elisa, deren Körper nicht durch Narben gezeichnet ist – zumindest keine, die selbst zugefügt wurden. All das hätte sein können. Doch stattdessen sitze ich vor den Trümmern eines Kinderlebens. Vor den Trümmern meines Lebens.

Ich werde nie genug Worte haben, um zu sagen, wie weh es tut, obwohl er mich nie verletzt hat. Manchmal wünsche ich mir, er hätte es getan. Er wäre grob dabei gewesen, hätte mich geschlagen, mich bedroht, weil dann so sichtbar, so klar wäre, dass ich mich schützen muss. Stattdessen stelle ich mir vor, wie er zuhause sitzt und sich fragt, warum ich keinen Kontakt mit ihm möchte. Warum ich nicht auf seine letzte Nachricht antworte – und fühle mich schuldig, weil er doch noch immer mein Vater ist, weil er mich sicher liebt und es ihm vielleicht das Herz bricht, dass er nicht weiß, was mit mir ist. Wie kann ein Mensch beides sein? Wie kann er Vater sein, eine so lange Zeit die wichtigste Person in meinem Leben, mein Beschützer vor meiner Mutter – und dann so etwas tun? Ich kann ihn nicht gleichzeitig hassen und lieben. Es zerreißt mich, wie damals, mit elf. Als es das erste Mal passierte. Und dutzende Male danach. Ich wurde in einen Abgrund gerissen – zwischen „Es fühlt sich falsch an und macht mir solche Angst, dass ich erstarre und mich nicht mehr rühren kann“ und „Es muss richtig und okay sein, wenn mein Vater das tut.“

Als mich am Montag mein Therapeut fragte, ob ich mich irgendwann auch so gefühlt habe, als sei ich mehr Partnerin als Tochter gewesen, brach noch ein bisschen mehr in mir zusammen. Eine Welle der Scham überrollte mich, raubte mir noch mehr Worte, wenn in diesem Moment Worte da gewesen wären. Ekel. Ein flaues Gefühl im Magen. Übelkeit. Auch jetzt beim Schreiben dieser Worte. Denn mit jedem Wort wird es wahrer, realer. „Nein„, habe ich gesagt, auch wenn ich nicht sicher bin, ob ich die Wahrheit sage oder mich zu sehr dafür schäme, wenn es anders gewesen wäre, „ich dachte, dass ich es ihm geben muss, wenn meine Mutter es nicht kann. Dass das meine Aufgabe ist.“ Es war meine Aufgabe, dass es ihm gut ging. Dass es meiner Mutter gut ging. Dass die heile Welt aufrecht erhalten wurde. Die heile Welt, in der das Kind Angst vor Mutter und Vater hatte – in der das Zuhause kein sicherer Ort war. Eine heile Welt.

Ein Kommentar zu “Mannheim • Tag LVII

  1. Liebe Elisa, das ist so unendlich traurig. Ich fühle mit Dir, der großen und auch der hilflosen kleinen Elisa. Wenn ich das lese, frage ich mich, wie Du auch nur einen Tag daran zweifeln konntest, dass Du genug Schlimmes erlebt hast, um ein Recht zu haben, in einer Klinik zu sein. Das hast Du immer wieder geschrieben, gedacht, Du dürftest den Schmerz aus diesen Vorgängen niemandem zumuten. Auch wenn es sich schrecklich anfühlt, Elisa, dass Du in der Klinik diese Dinge aussprichst, halte ich es für das einzig Richtige. Du sprichst aus, was Deine Seele schon lange weiß. Sie will nicht mehr länger zum Schweigen gebracht werden. Ich glaube, Du bist auf dem einzig richtigen Weg, auch wenn der sicher unendlich schwer ist. Ich bin so froh, dass Du dort in der Klinik bist, dass Du dort erfährst, dass es nicht in Ordnung war, auch wenn keine Gewalt angewendet wurde, wie Du es schreibst. Wenn es in Ordnung gewesen wäre, dann wärest Du nicht seit Jahren so sehr am Boden zerstört. Der Erwachsene hat die Verantwortung, immer, und nicht das Kind! Liebe Elisa, es wird wieder bergauf gehen, Du wirst damit umgehen lernen, auf eine Weise, die Dir gut tut. Du musst nicht denjenigen schützen, der Deine Grenzen überschritten hat. Es geht einzig und allein um Dich. Und Du bist unglaublich stark. Du weißt hoffentlich tief in Deinem Inneren, dass Du jetzt dran bist. Du sollst wieder leben dürfen. Von ganzem Herzen alles Liebe.

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